Die Panzer saßen am Runden Tisch

Der politische Regimewechsel in Mittel- und Osteuropa blieb meist friedlich, weil den Beteiligten die »chinesische Lösung« vor Augen stand.

  • Felix Wemheuer
  • Lesedauer: 6 Min.

In der Nacht zum 4. Juni 1989 beendeten die Panzer der Volksbefreiungsarmee die Proteste auf dem Tian›anmen, dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Das blutige Ereignis hatte großen Einfluss auf die finale Krise des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa. Am selben Tag fanden in Polen die ersten freien Wahlen statt, die der regierenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei eine vernichtende Niederlage einbrachten. Während sich in China die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) an der Macht halten konnte, kam es in Mittel- und Osteuropa zu Regimewechseln.

Die Proteste in Peking begannen Mitte April 1989 als Sympathiekundgebungen von Studierenden der Eliteuniversitäten in Reaktion auf den Tod des früheren Generalsekretärs der KPCh Hu Yaobang. Hu war 1987 von Deng Xiaoping abgesetzt worden, weil er mit Studierendenprotesten sympathisiert hatte. Im Mai 1989 gingen immer mehr Menschen auf die Straßen. Die Massenproteste waren eine diffuse Mischung aus Unmut über Korruption innerhalb der Partei und über die sozialen Folgen der Inflationskrise von 1988 durch die Preisliberalisierung. Die hohe Inflation war eine Nebenwirkung der Wirtschaftsreformen in Richtung »Marktsozialismus«.

Die Besetzung des Platzes durch die Bevölkerung war nur möglich, weil die Regierung gespalten war, wie sie mit den Demonstrationen umgehen sollte. Forderungen nach mehr Demokratie aus der Studentenschaft waren vage. Protestierende Arbeiter kritisierten mit einer sozialistischen Rhetorik die Regierung wegen Korruption und Vetternwirtschaft. In Peking demonstrierten zeitweise eine Million Menschen, auch in 80 weiteren Städten kam es zu Protesten.

Ein Großteil der Protestierenden glaubte, die Geschichte auf ihrer Seite zu haben, während die Hardliner in der Parteiführung eine »Konterrevolution« fürchteten. Diese Entwicklungen lassen sich vor dem Hintergrund der Krise des sozialistischen Lagers in Mittel- und Osteuropa besser verstehen.

Das Ende der Breschnew-Doktrin

In Osteuropa hatte die Politik von Gorbatschow indirekt zur Stärkung von Oppositionsbewegungen und Reformkräften innerhalb der regierenden Parteien geführt. Die sowjetische Regierung hatte 1988 die sogenannte Breschnew-Doktrin von der beschränkten Souveränität der anderen sozialistischen Länder des Blocks aufgehoben. Jede Nation sollte das Recht auf ihren eigenen Entwicklungsweg ohne Einmischung von außen haben. Es war damals zwar nicht sicher, aber viele Oppositionelle in Osteuropa gingen davon aus, dass die sowjetische Armee nicht wie 1953, 1956 und 1968 intervenieren würde. In Polen setzte sich im Februar 1989 die Idee eines »runden Tischs« von Regierung und Oppositionsbewegungen durch, was zum Modell eines ausgehandelten und schrittweisen Regimewechsels zu liberaler bürgerlicher Demokratie und Kapitalismus werden sollte.

Gegenüber China hatte Gorbatschow eine Wiederannäherung verfolgt. Zu diesem Zeitpunkt wollte sich auch die KPCh geostrategisch nicht allein von den USA abhängig machen. Es begann eine Versöhnung mit der Sowjetunion und den osteuropäischen »Bruderparteien«. Als Gorbatschow als erstes sowjetisches Staatsoberhaupt seit 1959 im Mai 1989 China besuchte, war der Platz des Himmlischen Friedens von Demonstranten besetzt. Das stellte für die chinesische Führung einen großen Gesichtsverlust dar.

Die Führung der KPCh reagierte auf die Proteste mit Unverständnis, da sie die »Reform und Öffnung« seit 1978 für erfolgreich hielt. Die Hardliner setzten mit Hilfe von Deng schließlich den Militäreinsatz durch. Sie sahen keinen Grund, mit Studierenden Anfang zwanzig einen Regimewechsel auszuhandeln. Nach Verhängung des Kriegsrechts schoss sich die Armee die Straßen zum Tian‹anmen-Platz frei, der dann mit Panzern geräumt wurde. Schätzungen der Zahl der Todesopfer variieren von einigen Hundert bis über Zehntausend. Nach damaligen offiziellen Angaben kamen auch 23 Soldaten und Mitglieder der Bewaffneten Volkspolizei ums Leben. Es folgte eine Welle von Verhaftungen und Hinrichtungen im ganzen Land.

Dass in Mittel- und Osteuropa, außer in Rumänien, die Regimewechsel im Herbst 1989 friedlich vonstattengingen, kann auch auf die Ereignisse in China zurückgeführt werden. Die Niederschlagung der Proteste und die heftigen internationalen Reaktionen schreckten die regierenden Parteien in den Ländern des Warschauer Paktes von der »chinesischen Lösung« ab. Die SED-Führung, die sich in den 1970ern an der sowjetischen Propagandakampagne gegen China beteiligt hatte, ließ im ND die Niederschlagung des »konterrevolutionären Aufrufs« in Peking am 5. Juni zwar begrüßen. Sie entschied aber, bei den Massenprotesten im Herbst 1989 in der DDR selbst keine militärische Gewalt gegen Demonstranten auszuüben. Das Modell des »runden Tischs« wurde schließlich auch in Ungarn, der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) und der DDR angewandt.

Revolution oder Implosion?

Die verbreitete Ansicht, 1989 habe »die Zivilgesellschaft« die autoritären Regime in »friedlichen Revolutionen« zu Fall gebracht, ist zu pauschal. Einige Wissenschaftler sind sogar der Meinung, dass in den autoritären Gesellschaften gar keine Zivilgesellschaft entstehen konnte. Der Zusammenbruch sei vielmehr durch eine Implosion der kommunistischen Parteien von innen heraus ausgelöst worden. In Polen spielten 1989 Streiks und Proteste keine große Rolle mehr, da die Opposition durch den »runden Tisch« in Verhandlungen mit der Regierung eingebunden war.

Auch in Ungarn wurde der Wandel von oben angestoßen. Als die ungarische Regierung im Sommer 1989 beschloss, die Grenze zu Österreich zu öffnen, beschleunigte die darauffolgende Massenflucht von DDR-Bürgern über Ungarn in den Westen den Legitimitätsverlust der SED. Die größten Massenproteste im sowjetischen Lager fanden im November 1989 in der DDR statt. Auch in der ČSSR gab es Demonstrationen im ganzen Land. In anderen Ländern blieben die Proteste »der Zivilgesellschaft« überschaubar.

Für Rumänien hingegen trifft das Schlagwort der »friedlichen Revolution« überhaupt nicht zu. Dort kam es im Dezember ›89, nach der gewaltsamen Niederschlagung lokaler Proteste durch die Geheimpolizei, zu einem Militärputsch gegen die Regierung. Präsident Nicolae Ceauşescu und seine Frau Elena wurden verhaftet und nach einem kurzen Schauprozess vor laufenden Kameras erschossen. Die eiserne Sparpolitik Ceauşescus hatte zur Verarmung der Bevölkerung und seiner eigenen Unbeliebtheit geführt. Während Polen, die DDR oder Jugoslawien versucht hatten, durch ausufernde Verschuldung im westlichen Ausland sozialen Frieden zu erkaufen.

Doch auch deren ausgehandelte Regimewechsel waren nur möglich, weil die Machthaber den Wind der Geschichte gegen sich wussten. Zum Teil hatten sie selbst den Glauben an die Überlegenheit des Sozialismus verloren. Zudem schätzten die politischen Eliten der zweiten Reihen richtig ein, dass sie durch einen Gewaltverzicht nach dem Regimewechsel weitgehend straffrei ausgehen würden. Nach der Namensänderung der Parteien in »sozialistisch« oder »sozialdemokratisch« sollten sie auch in einem parlamentarischen System einen Platz haben und konnten sich in den meisten Ländern langfristig in die neuen politischen Eliten integrieren.

Die chinesische Führung zog aus dem Zusammenbruch des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa die Lehre, dass das Machtmonopol der Partei auf keinen Fall aufgegeben werden darf. Neue Legitimation sollten vor allem der wirtschaftliche Aufschwung sowie die Steigerung des Wohlstandes von großen Teilen Bevölkerung verschaffen. Mit dieser Kombination konnte bis heute ein Regimewechsel verhindert werden.

Felix Wemheuer ist Professor für das Moderne China an der Universität zu Köln. Sein neuestes Buch »Chinas große Umwälzung« ist gerade bei PapyRossa erschienen.

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