Chemnitz kann Zivilgesellschaft

1300 Menschen gehen gegen 250 Neonazis auf die Straße

  • Henrik Merker
  • Lesedauer: 4 Min.

NPD, DIE RECHTE und andere Neonazigruppen wollten einen »Tag der deutschen Zukunft« in Chemnitz ausrufen, am Ende mussten sie weitgehend stumm und ohne martialische Trommeln durch die Stadt ziehen. Nur vereinzelt skandierten sie ihre üblichen Parolen. Und das auch nur, wenn Gegenprotest in der Nähe war – von dem waren sie zwischenzeitlich regelrecht umzingelt. Zahlreiche Kundgebungen waren an der Route angemeldet, dazu gab es eine Großdemonstration unter dem Motto »Wir sind mehr«. Auch Anwohner beteiligten sich: sie spendeten der pro-demokratischen Demonstration Wasser.

Neonazis gegen die Pressefreiheit

Bei einer Zwischenkundgebung am Hauptbahnhof versuchten mehrere Neonazis, eine eigenwillige Interpretation der Pressefreiheit durchzusetzen. Die Rechten hatten sich im Halbkreis zu einer Kundgebung aufgestellt, Journalisten fotografierten. Neonazi-Ordner kamen darauf angerannt und forderten, keine Fotos aus der Mitte der Kundgebung aufzunehmen. Die Polizei-Pressesprecherin versuchte, zu schlichten.

Davon ließen sich die Rechtsextremen nicht beeindrucken, wurden aggressiv. Einige Journalisten zogen sich zurück. Ein Reporter des »neuen deutschland« wurde von einem Rechtsextremen mehrfach vor die Brust gestoßen. Polizisten griffen nicht ein. Hinterher fragte ein Beamter lakonisch, ob da denn mehr gewesen sei, als nur Geschubse.

Kinderfest mit Einschränkungen

Eigentlich sollte am 01. Juni in Chemnitz der Kindertag ganz traditionell mit einem Seifenkistenrennen gefeiert werden. Doch daraus wurde nichts, wegen des Nazi-Aufmarschs. Das Rennen sollte auf derselben Route stattfinden, die sich die Rechtsextremen gesichert hatten.

Eine Ausweichstrecke lehnten die Organisatorinnen vom Alternativen Jugendzentrum ab: Kinder sollten nicht zugunsten von Neonazis an den Rand der Stadt geschoben werden. Zu einer Wasserschlacht an der Startkundgebung der Rechten kamen rund 50 Kinder und junge Erwachsene, sie machten Lärm gegen den Aufmarsch.

Auf dem Marktplatz der Stadt fand derweil das große Kinderfest statt, an dem sich Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig beteiligten.

Ein Statement von Sachsens Ministerpräsidenten zog derweil Kritik auf sich. Unter dem Hashtag #wirsindmehr schrieb er auf Twitter, man habe »allen Extremen gezeigt: So nicht«. Der Studierendenrat der TU Chemnitz kritisierte, dass der Gegenprotest damit auch als extrem bezeichnet würde.

Außerdem fand unter dem Namen »Wir sind mehr« im vergangenen Jahr in Chemnitz ein Konzert mit 64.000 Besuchern statt – als Antwort auf die rassistischen Ausschreitungen im Herbst. Das Konzert landete im sächsischen Verfassungsschutzbericht – was scharf kritisiert wurde.

An einer Seitenstraße versuchten Gegendemonstranten, auf die Route der Neonazis zu kommen. Die Polizei drängte sie zurück, es kam zu einem kurzen Gerangel. Als die Gegendemo am späten Nachmittag wieder am Hauptbahnhof ankam, flog aus deren Reihen eine volle Glasflasche. Der Werfer verfehlte knapp mehrere Journalisten und Polizisten, die alle keinen Helm trugen.


Anzeigen gegen Neonazis

Die 250 Teilnehmer der rechtsextremen Demonstration kamen aus ganz Deutschland, eine große Delegation reiste extra aus Dortmund an. Ein mutmaßlich kroatischer Teilnehmer hatte das Symbol der Ustascha, einer kroatisch-faschistischen Terrororganisation am Hals tätowiert.

Seit einiger Zeit gibt es in Kroatien ein Revival der Gruppe. Im Österreichischen Bleiburg findet jährlich ein Faschisten-Treffen unter Beteiligung von zuletzt 10.000 Ustascha-Fanatikern statt.

Auch andere Szenecodes wie die Abkürzung »14 words« wurden offen zur Schau getragen. Wegen verfassungsfeindlicher Symbole gab es zwei Anzeigen. Einem anderen Neonazi nahm die Polizei Quarzsandhandschuhe ab und seine Personalien auf. Neonazis aus der Aryans-Gruppe waren mit dabei. Gegen die Aryans laufen Terror-Ermittlungen der Bundesanwaltschaft.

AfD-Stadtrat beim Nazi-Aufmarsch

Der Tag der deutschen Zukunft ist eine schwindende Veranstaltung. In letzter Zeit haben die deutschen Neonazis allgemein weniger Teilnehmer bei ihren vormaligen Events. Zuletzt blamierte sich der Thüringer Thorsten Heise in Leinefelde, als zum Eichsfeldtag statt 800 nur 130 Anhänger kamen.

Und auch in Chemnitz wurden die angemeldeten 500 weit unterschritten. Die Wahlerfolge anderer rechter Parteien und die lokale Stärke der Kleinstpartei III. Weg dürften zum Einbruch geführt haben. Vom III. Weg bekam der Aufmarsch keine Unterstützung, auch Pro Chemnitz beteiligte sich nicht. Nur ein AfD-Stadtrat aus Lößnitz nahm teil.

Derweil ist die Chemnitzer Zivilgesellschaft dabei, sich von den Ausschreitungen vom vergangenen Jahr zu erholen. Demokratische Veranstaltungen haben wachsenden Zuspruch. Bei einem HioHop-Konzert im Anschluss an den Gegenprotest kamen nochmal gut 300 Gäste vor dem Karl-Marx-Monument zusammen.

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