Eine Liste des Grauens

Lebenslang für Ex-Krankenpfleger Högel nach beispielloser Tötungsserie

  • Helmut Reuter und Janet Binder, Oldenburg
  • Lesedauer: 3 Min.

Zahlen, immer wieder diese Zahlen. »Sterbefall 1«, »Sterbefall 2« und weiter bis zum »Sterbefall 100«. Eine Liste des Grauens. Hinter jeder Zahl ein Toter, ein Opfer, ein Einzelschicksal. Wie viele Menschen Ex-Krankenpfleger Niels Högel ermordete, weiß nur er. Und die makabre Wahrheit: Nicht mal er scheint es genau zu wissen. »Keine Erinnerung, kein Ausschluss«, war 52 Mal seine Aussage. Vielleicht hat er diese Menschen getötet, vielleicht auch nicht. Der Prozess gegen den Serienmörder Högel ist mit dem erwarteten Urteil »lebenslange Freiheitsstrafe« zu Ende gegangen. Es bleiben viele offene Fragen und auch die Furcht, dass die Liste länger ist.

In 85 Fällen sah die Kammer des Oldenburger Landgerichts die Morde als erwiesen an. In 15 Fällen kam das Gericht nicht zu einer »hinreichenden Gewissheit« und entschied auf Freispruch. Diese Fälle wurden alle nach dem Grundsatz »In dubio pro reo« (Im Zweifel für den Angeklagten) gefällt, wie Richter Sebastian Bührmann sagte. Vor allem für die Angehörigen ist das schwierig. »Wir entlassen Sie in Ungewissheiten, die für Sie so quälend sein müssen. Wir müssen Ihre Hoffnungen in diesem Moment enttäuschen«, sagte Bührmann.

Frank Brinkers ist einer von den Angehörigen, die in diese Ungewissheit entlassen wurden. Er verlor seinen Vater. »Das ist sehr, sehr bitter«, sagte Brinkers, der nach dem Urteil um Fassung ringen musste. »Ich bin durch die Hölle gegangen, und es ist schwer erträglich.« Er habe sich gewünscht, dass auch der Fall seines Vaters klar und unumstößlich sei. »Es hat anscheinend nicht sein sollen.«

Um das Strafmaß ging es in dem Prozess vor dem Landgericht Oldenburg nicht in erster Linie. Aufklärung und die Suche nach Wahrheit - mit diesem Anspruch eröffnete die Kammer am 30. Oktober 2018 die Hauptverhandlung. »Wir werden uns bemühen und mit allen Kräften nach der Wahrheit suchen«, versprach Bührmann damals. Der Anspruch konnte nicht ganz erfüllt werden.

Manchmal habe der Strafprozess eher den Charakter einer Wahrheitskommission gehabt, schrieb die »New York Times«. Högel habe so viele offene Fragen hinterlassen wie Opfer. Der heute 42-Jährige tötete von 2000 bis 2005 immer weiter. Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Zuerst suchte er sich die Opfer sorgfältig aus. Später tötete er wahllos. Immer wieder mahnte die Kammer, man dürfe trotz der hohen Opferzahl nie pauschal werden. Immer gehe es um Einzelschicksale.

Högel bekam von früheren Kollegen viele Namen - »Sensen-Högel«, »Todes-Högel«, »Rettungs-Rambo«. Als »seelisch verwahrlost« beschrieb ihn ein Gutachter. Warum er aber tötete, konnte letztlich auch der Prozess nicht eindeutig klären. Geltungssucht, Selbstüberhöhung, Narzissmus - all dies wurde Högel zugeschrieben.

Seinen Patienten injizierte er Medikamente. Der Zustand der Kranken verschlechterte sich daraufhin binnen Sekunden lebensbedrohlich. Der Alarm schrillte. Högel war meist als Erster im Krankenzimmer und begann mit der Reanimation. Darin war er gut. Er wollte glänzen vor seinen Kollegen und Lob erfahren. Dass die Menschen starben, nahm er in Kauf.

Es ging ihm um ein Wohlgefühl, eine Hochstimmung, Spannungsaufbau und Spannungsabbau. Unmittelbar nach der glücklichen Geburt seiner Tochter tötete Högel durch die Manipulation der Medikamentengabe einen Menschen. »Sie wollten damit das Wohlgefühl erhalten, in dem Sie einen anderen Menschen in den Tod geschickt haben«, resümierte Richter Bührmann. Dieser Fall gewährt einen kleinen Blick in die damalige Gemüts- und Gefühlswelt des Serienmörders, der nach dem Willen der Angehörigen nie mehr aus dem Gefängnis kommen soll. dpa/nd

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