Soldat M., »Anastasia« und die Todesbuche

Neue Ermittlungsresultate zum Abschuss von MH 17, die maximal zur politischen Anklage gegen Russland reichen

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Gesucht werden: Igor Girkin (48), bekannt als Strelkow. Er war ein hoher Kommandeur der pro-russischen Rebellen in der Ostukraine, Sergej Dubinski (56) und Oleg Pulatow (52), zwei gleichfalls im russischen Militärgeheimdienst GRU und der Rebellenregion aktive russische Offiziere sowie Leonid Chartschenko (47), ein Rebellenführer in Donezk mit ukrainischer Staatsbürgerschaft. Der Prozess gegen die Vier und eventuell weitere Schuldige am Abschuss einer malaysischen Boeing 777 am 17. Juli 2014 über dem Kampfgebiet in der Ukraine soll im März 2020 in den Niederlanden stattfinden. Das hatte das Gemeinsame Ermittlungsteam (englisch JIT abgekürzt) am Mittwoch bei einer relativ kurzfristig angekündigten Pressekonferenz mitgeteilt. In dem Gremium arbeiten Vertreter aus Belgien, Malaysia, Australien, den Niederlanden und der Ukraine.

Sicher ist: Mit den vom JIT vorgelegten Belegen zur Schuld der vier Verdächtigen und den Mutmaßungen über eine Befehlskette, die bis in die Umgebung des russischen Präsidenten reicht, kann man vielleicht vor die - in Nieuwegein nur schwach vertretene - Presse treten, nicht jedoch vor Gericht punkten. Sie sind dünn, ihre Herkunft ist unklar, die Beweisketten wirken willkürlich zusammengefügt.

Der Leiter des JIT, der niederländische Staatsanwalt Fred Westerbeke, erklärte: »Wir haben die Information, wir haben den Beweis, dass Russland an dieser Tragödie, an diesem Verbrechen, auf die eine oder andere Weise beteiligt war.«

Im Grunde schreibt das JIT bekannte Ermittlungsergebnisse fort und macht sich nicht die Mühe, dabei zahlreiche Unstimmigkeiten auszuräumen. Das Ermittlungsteam geht davon aus, dass die Separatisten im Juni und Juli 2014 in Bedrängnis geraten waren, auch weil die ukrainische Luftwaffe ihnen zusetzte. Also verlegte Russland eine Raketenbatterie der russischen 53. Flugabwehrbrigade samt Bedienungspersonal aus Kursk über die Grenze. Und schaffte nach dem Abschuss der Boeing eiligst die Startrampe - minus einer fehlenden Rakete - zurück nach Russland.

Die Brigade war mit Raketen vom Typ »BUK«, zu deutsch »Buche«, ausgestattet, die noch aus Sowjetzeiten stammt und auch von der ukrainischen Armee genutzt werden. Es gibt verschiedene Einsatztaktiken für diese Waffe, doch welche zum Abschuss genutzt worden ist, können die JIT-Ermittler offenbar nicht erklären. Sie präsentierte stattdessen abermals Fotos und Videos, die von der in London ansässigen, angeblich total unabhängigen und von Idealisten betriebenen Internetenthüllungsplattform »Bellingcat« bereits mehrfach vorgelegt wurden. Die sollen den Transport einer bestimmten Startrampe in das und aus dem ukrainischen Rebellengebiet belegen. Dazu spielte man abgefangene Telefongespräche ein und bediente sich sogar einer Flirtplattform.

Auf der chattet ein »Soldat M.« mit einer »Anastasia«. Er ist angeblich Angehöriger des 2. Bataillon der 53. Flugabwehrbrigade und traf auf Jungs aus dem 3. Bataillon samt einem Oberleutnant, den er als »A...loch« bezeichnete und der laut JIT dennoch inzwischen zum Hauptmann befördert wurde. Was aber letztlich wohl völlig unwichtig ist. Den Ermittlern kommt es darauf an, dass Soldat M. per Hinweis auf einen Musiktitel ein »großes Geheimnis« verrät. Die Jungs aus dem 3. Bataillon seien auf dem Weg »gen Westen« gewesen. Was »Anastasia« - messerscharf kombinierend - mit Blau-gelb, also den Farben der ukrainischen Nationalfahne verband. Treffer! Oder?

Wer zur Besatzung der »Todesbuche« gehörte, bleibt unklar. Man zeigte der Presse am Mittwoch nur diverse in sozialen Medien gepostete Gruppenfotos russischer Soldaten und sprach die Hoffnung aus, dass sich Zeugen melden.

Um nicht missverstanden zu werden: Es spricht - jenseits von Motiven - vieles dafür, dass Flug MH 17 mit einer BUK-Rakete abgeschossen wurde und dass die von russischen Soldaten gelenkt wurde. Dass Igor Strelkow dies gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Interfax jetzt abermals bestritt und der ehemalige Leiter der selbst ernannten Donezk-Republik, Alexander Borodai, behauptet, »wir hatten damals kein BUK-System«, muss nicht zwingend wahr sein.

Dennoch wäre es geboten, die »Gegenaufklärung«, die Russland in vielfacher Form versucht, auf Stichhaltigkeit abzuklopfen. So hat das russische Verteidigungsministerium bereits vor über einem Jahr Dokumente zur Auslieferung der bewussten Rakete in Sowjetzeiten veröffentlicht. Die führen in ein ukrainisches Arsenal. Wahrheit oder Lüge - das JIT ignoriert diese Hinweise ebenso, wie es die von Moskau gelieferten Radardaten unbeachtet lässt. Demnach gab es zum fraglichen Zeitpunkt keinerlei Raketenaktivitäten auf dem Gebiet der Rebellen.

Danach gefragt, erklärte ein JIT-Vertreter am Mittwoch, dass fehlende Beweise nicht bedeuten, dass es sie nicht gibt. Wohl aber, so scheint es, fehlen noch immer die Satellitenfotos, die die US-Regierung unmittelbar nach der Mordtat versprach und die die Schuld Russlands eindeutig beweisen sollen. Von ihnen ist schon lange keine Rede mehr.

Der malaysische Premierminister Mahathir Mohammad kritisierte dagegen die Untersuchung und forderte konkrete Beweise für die russische Schuld. Die Ermittlung sei »von Anfang an eine politische Frage, wie man Russland eines Fehlverhaltens beschuldigen kann«, sagte Mahathir. Obwohl die abgeschossene Passagiermaschine der nationalen Fluggesellschaft Malaysia Airlines gehörte und 46 Opfer aus Malaysia stammen, bleiben die Ermittler aus Kuala Lumpur bei den Untersuchungen zumeist außen vor. Im Gegensatz zu denen aus der Ukraine. Man pflege mit Kiew eine »unglaublich wertvolle« Kooperation, sagte Westerbeke, der JIT-Chef.

Einen Tag vor der JIT-Pressekonferenz empfing Bundeskanzlerin Angela Merkel den neuen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Dabei wurde über den offenbar nicht auszutretenden Ukraine-Russland-Brand gesprochen. Und auch über MH 17?

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