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  • Bürgermeisterwahlen in Istanbul

Letzte Chance am Bosporus

Bei den zweiten Bürgermeisterwahlen steht mehr als Stadtpolitik auf dem Spiel: Es geht um die türkische Demokratie.

  • Ulrich von Schwerin, Istanbul
  • Lesedauer: 5 Min.

Wer den Wahlkampf in Istanbul in seiner ganzen Intensität erleben wollte, musste die letzten Tage nur die Fähre nach Kadiköy auf der asiatischen Seite des Bosporus nehmen: Gleich links vom Fähranleger verkündete auf einer Leinwand der CHP-Kandidat Ekrem Imamoğlu seine Pläne für die Stadt, während junge Männer zu einem dröhnenden Wahlkampfsong Hand in Hand im Kreis tanzten. Gleich gegenüber winkte der AKP-Kandidat Binali Yildirim von einem großen Bildschirm. Davor einige Anhänger, die zum Klang eines martialischen Lieds bunte Fahnen schwenkten.

In der Mitte des Platzes, wo sich die Beats, Klänge und Liedfetzen zu einem unauflösbaren, dissonanten Klangbrei vermischten, hatten zwei kleinere Parteien ihre Stände aufgebaut, die bei der Bürgermeisterwahl am Sonntag Imamoğlu unterstützen. Einige Passanten blieben auf dem Weg zum Fähranleger interessiert stehen, andere hielten sich genervt die Ohren zu. Die meisten aber eilten vorüber, ohne den Ständen und Flyern weiter Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Leute in Istanbul sind Wahlkampf gewöhnt. Schließlich ist es noch keine drei Monate her, dass der Bürgermeister gewählt wurde. Vieles an den Wahlplakaten, den Kundgebungen und den scheppernden Songs aus den Lautsprecherwagen fühlt sich wie ein Déjà-vu an. Doch zugleich hat sich seit März viel verändert. Denn erstmals seit Jahren scheint die AKP in die Defensive gedrängt, während die Opposition mit Imamoğlu neue Hoffnung schöpft.

»Alles wird sehr schön werden«, lautet der optimistische Slogan des Kandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP). Zwar hat die Opposition durchaus Zweifel, dass die Wahl tatsächlich gut ausgeht. Schließlich will im Staat von Präsident Recep Tayyip Erdoğan niemand mehr ausschließen, dass sie manipuliert wird. Dennoch hat sich Imamoğlu mit ungebrochenem Optimismus in den Wahlkampf geworfen, um das Rathaus erneut zu erobern.

Schon einmal hatte der Istanbuler Lokalpolitiker die Wahl gewonnen. Bei der Kommunalwahl am 31. März war er knapp vor dem früheren Ministerpräsidenten Yildirim gelandet und zwei Wochen später in sein Amt eingeführt worden. Doch Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) klagte über »Diebstahl an den Urnen« und legte Beschwerde ein. Unter einem fadenscheinigen Vorwand annullierte die Wahlkommission schließlich die Wahl.

Nun wird am Sonntag also erneut gewählt in Istanbul. Wie im März hängt die Stadt voller Plakate, und an den Fähranlegern und vor den Moscheen drängen sich die Wahlkampfstände. So vertraut das Bild ist, so viel hat sich doch verändert. War Imamoğlu vor dem 31. März noch ein unbekannter Bezirksbürgermeister, ist er nun der Star der Opposition. Manche trauen dem 49-Jährigen gar zu, bei der nächsten Präsidentschaftswahl Erdoğan herauszufordern.

Der Familienvater lässt sich im Wahlkampf als »Ekrem Abi« - »Bruder Ekrem« anreden und präsentiert sich als bodenständiger Politiker, der die Sorgen der Leute kennt. Angesichts der Währungskrise und des Anstiegs der Lebenshaltungskosten setzt Imamoğlu ganz auf soziale Themen: Armut, Arbeitslosigkeit und Kinderbetreuung stehen im Zentrum seines Wahlkampfs. Statt weiterer Großprojekte verspricht er Kitas und freie Milch für bedürftige Familien.

Die AKP, die vor der Wahl im März noch den Ton angegeben hatte, scheint nunmehr in Zugzwang geraten zu sein. Statt selbst die Themen vorzugeben, sah Yildirim sich genötigt, ebenfalls mehr Unterstützung für Familien, Studenten und Arme zu versprechen. Hatte der 63-Jährige vor der Wahl im März vor allem die vergangenen Leistungen seiner Partei hervorgehoben, stellte er nun ebenfalls neue Arbeitsplätze, mehr Grünflächen und Vergünstigungen im Nahverkehr in Aussicht.

Auch in einem anderen Punkt ist es Imamoğlu gelungen, die Agenda zu bestimmen. Gleich zu Beginn des Wahlkampfs kündigte er an, das »System der Verschwendung« in der Stadtverwaltung zu beenden. Er werde Schluss machen mit unnötigen Dienstwagen wie überhaupt mit Korruption und Klientelismus. Die Stadtverwaltung ließ daher in den letzten Tagen überall Plakate aufhängen mit dem Slogan »Dienstleistungen für Istanbul sind keine Verschwendung«.

Wie sehr die AKP in der Defensive ist, zeigt sich auch darin, dass sie erstmals seit ihrem Amtsantritt 2002 ein Fernsehduell akzeptiert hat. Bei den Istanbulern stieß die Debatte eine Woche vor der Wahl auf großes Interesse. Richtig fesselnd war sie zwar nicht, doch die Leute verfolgten die dreistündige Diskussion in Cafés, Parks und auf öffentlichen Plätzen bis spät in die Nacht. Wähler aller Parteien zeigten sich anschließend erfreut über diese Übung in Transparenz.Erdoğan hat sich derweil fast komplett aus dem Wahlkampf zurückgezogen. Hatte er die Kommunalwahl vom 31. März noch völlig dominiert und die Abstimmung damit zu einem Referendum über sich selbst gemacht, trat er nun kaum in Erscheinung. Manche werteten dies als Zeichen, dass er die Wahl bereits verloren gegeben hat. Doch Erdoğan hat schon oft gezeigt, dass er nicht leicht aufgibt: Eine Niederlage Yildirims ist noch keineswegs ausgemacht.

Die Entscheidung zur Annullierung der Wahl hat gezeigt, wie wichtig Istanbul für die AKP ist. Die 16-Millionen-Metropole ist das kulturelle und wirtschaftliche Zentrum der Türkei. Die Kontrolle über das Rathaus mit seinem Budget von neun Milliarden Euro hat der AKP in den vergangenen Jahren erlaubt, ihre Anhänger mit Posten, Aufträgen und finanzieller Unterstützung zu versorgen. Erdoğan wäre nicht Erdoğan, wenn er dieses Kapital kampflos aufgeben würde.

Längst geht es bei der Wahl nicht mehr nur darum, wer die Bosporus-Metropole die nächsten Jahre regiert. Sondern auch um die Frage, ob es in der Türkei noch einen demokratischen Machtwechsel geben kann. Alle Augen richten sich nun darauf, ob die Wahl am Sonntag frei und fair verläuft. Viel hängt davon ab, ob beide Seiten das Ergebnis dieses Mal akzeptieren. Sollte Erdoğan einen Sieg Imamoğlus erneut anfechten, wäre dies wohl das Ende der Demokratie in der Türkei.

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