Bye-bye, Birkenstock

Von der Bio-Boom-Hauptstadt zur »Bio für alle«-Metropole ist es ein langer Weg.

  • Vanessa Fischer
  • Lesedauer: 5 Min.

Mit dem, wovon Ursula Meister einmal dachte, es könne die Welt verändern, hat der Markt am Maybachufer schon lange nichts mehr zu tun. Am späten Freitagnachmittag liegen die Stände dort bereits im Schatten der Altbauten. Scharen junger, hipper Berliner*innen und Tourist*innen aus aller Welt drängen sich drum herum. 70 verschiedene Sorten Biokäse gibt es hier, Obst und Gemüse aus ökologischem Anbau, zapatistischen Kaffee und Soja-Latte. Die Öko-Hipster, so scheint es, frönen hier dem Ausdruck ihres modernen und urbanen Lebensgefühls. Und sie werden immer mehr.

»Bio ist längst zum Megatrend geworden«, erklärt Dorothée Quarz vom Bundesverband Naturkost Naturwaren. Von den Strickpullover und Birkenstock tragenden »Ökos« der 70er und 80er Jahre, die gegen Atomkraft protestierten und ihr eigenes Müsli herstellten, ist der Bio-Boom in Berlin heute jedoch weit entfernt. Bio ist in der Hauptstadt innerhalb weniger Jahre aus der Nische heraus zum Mainstream geworden. Eine Studie der Universität Hohenheim, die von der Supermarktkette Bio Company in Auftrag gegeben wurde, bestätigt das: 2016 kauften vier von fünf Berliner*innen Bio. Der Rest der Republik dürfte bald nachziehen, meint Studienautor Jens Vogelgesang. »Berlin ist Trendsetter, vor allem im Lifestyle-Bereich. Entwicklungen, die sich hier abspielen, können wir in den Folgejahren meist bundesweit beobachten«, so der Kommunikationswissenschaftler.

»Damit ist es aber auch unpolitischer geworden«, beklagt Meister, während sie sich durch die brandenburgischen Frühkartoffeln eines Standes wühlt. Die pensionierte Lehrerin gehörte zu den Pionier*innen der Berliner Ökoszene. Als der erste deutsche Bioladen 1971 unter dem Namen »Peace Food« an der Pallasstraße in Schöneberg eröffnete, war sie eine der ersten Kundinnen. Körner und Trockenfrüchte gab es dort zu kaufen. Seit 2000 war der Laden dann unter dem Namen »Lebensbaum Naturwaren« an der Winterfeldtstraße zu finden. Dass er 2007 ausgerechnet dem aufkommenden Bio-Boom zum Opfer fiel, stimmt die Ökopionierin traurig. »Mit dem Biosupermarkt, der fast nebenan öffnete, konnte der kleine Laden nicht mehr mithalten«, sagt sie nachdenklich.

Heute ist Bio durchkommerzialisiert, vier Unternehmen teilen sich den Berliner Markt: Regionaler Marktführer ist mit 50 Filialen die Bio Company, gefolgt von Denn’s (41 Filialen), Alnatura (20 Filialen) sowie der LPG (8 Filialen). Hinzu kommen konventionelle Supermärkte und Discounter, die allesamt Bioprodukte in ihrem Sortiment anbieten. In der Metropolregion konnte die Branche 2018 einen Gesamtumsatz von 530 Millionen Euro verzeichnen - ein Zuwachs von etwa 7 Prozent, wie die Fördergemeinschaft Ökologischer Landbau Berlin-Brandenburg mitteilte.

Doch wer Bio kauft, muss sich das auch leisten können. »Mehr als die Hälfte der Berliner Haushalte mit mehr als 4000 Euro Einkommen kaufen häufig Bio«, erklärt Vogelsang. In der Einkommensklasse unter 2000 Euro seien es dahingegen nur 37 Prozent.

Neben artgerechter Tierhaltung spielen laut Ökobarometer für viele Kund*innen auch Motive wie die eigene Gesundheit und der Geschmack eine Rolle. »Bionade-Biedermeier« karikierte das »Zeit«-Magazin diese großstädtische und gut verdienende Klientel deshalb. Ihr Lebensstil sei vom Rückzug in private Gemütlichkeit und der Abkehr von politischem Engagement gekennzeichnet.

Dabei gibt es beim Thema Öko bereits politische Ansätze: In den Räumen des selbstverwalteten Kollektivs »Ida Nowhere« in Neukölln holen junge Menschen am Donnerstagabend Gemüse ab. An der Bar wird gekocht, im Keller liegen Karotten, Salat und Mangold. Das Gemüse hat an diesem Tag bereits 100 Kilometer zurückgelegt. Hinter Müncheberg im brandenburgischen Oderbruch befindet sich der Hof der Solidarischen Landwirtschaft »Basta«. Die Abnehmer*innen in Berlin bezahlen einen monatlichen Festpreis und bekommen frisches Biogemüse - so viel wie eben wächst. Nicht nach Stückpreis verkaufen zu müssen, gibt den Bäuer*innen Sicherheit. Daneben kommen die Städter*innen ab und zu in der brandenburgischen Pampa vorbei, um bei der Ernte zu helfen - »oder einfach nur, um die Stille zu genießen«, wie eine der Abholerinnen lachend erklärt. »Die Utopie einer besseren Welt spielt für mich dabei aber auch eine große Rolle«, ergänzt sie. Und gibt noch zu verstehen, dass das Ganze dann doch etwas zeitaufwendig sei.

Damit künftig mehr Berliner*innen, unabhängig von Einkommen oder verfügbarer Zeit, vom Bio-Boom in der Hauptstadt profitieren, ist Berlin kürzlich dem Biostädte-Netzwerk beigetreten. Ziel der aktuell 14 deutschen Städte des Netzwerks ist es, den ökologischen und regionalen Anbau zu stärken. In Berlin soll dafür zunächst der Bioanteil in den landeseigenen Kindertagesstätten, Schulen, Kantinen, Justizvollzugsanstalten, Mensen und beim Catering in öffentlichen Einrichtungen erhöht werden, erklärt Verbraucherschutzsenator Dirk Behrendt (Grüne). So könne in Zukunft allen Bevölkerungsschichten Zugang zu Bio-Essen ermöglicht werden.

Nach dem Vorbild Kopenhagens, wo »Bio-Essen für alle« ohne Mehrkosten bereits Realität ist, soll bald ein »House of Food« als Fortbildungseinrichtung für die Köchinnen und Köche der öffentlichen Einrichtungen Berlins entstehen. »Das House of Food kann und darf aber nur ein Einstieg in die Berliner Ernährungswende sein«, sagt Christine Pohl vom Berliner Ernährungsrat. Ihre Kollegin Gundula Oertel fügt hinzu, dass auch eine neue Sicht auf unsere Esskultur notwendig sei - eine »Umstellung in den Köpfen und den Töpfen«. Gelingt diese, dann ist sogar noch einiges mehr möglich, behauptet Ingo Zasada vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung. Zusammen mit Kolleg*innen aus Großbritannien, Italien und den Niederlanden untersuchte er, ob eine regionale Versorgung der Metropolregionen London, Berlin, Mailand und Rotterdam möglich ist.

Brandenburg verfügt über 14.600 Quadratkilometer landwirtschaftliche Fläche. Um den Nahrungsmittelbedarf der hier lebenden Menschen zu decken, wird laut Studie eine Agrarfläche von 12.500 Quadratkilometern benötigt. »Die Metropolregion Berlin ist also in der Lage, sich aus sich selbst heraus zu ernähren«, fasst Zasada das Ergebnis zusammen. Doch wie sieht es mit ökologischem Anbau aus? Die Studie zeigt, wenn von heute auf morgen auf Bio umgestellt würde, wäre der Selbstversorgungsgrad nicht mehr auf einhundert Prozent: Aufgrund geringerer Erträge erhöht sich beim Öko-Landbau der Bedarf an Flächen. Allerdings könne dieser Mehrbedarf durch ein verändertes Konsumverhalten und Müllvermeidung ausgeglichen werden. »Würden sich die Leute bewusster ernähren und weniger wegwerfen, würde die Umstellung funktionieren«, erklärt Zasada.

Theoretisch möglich ist sie also, die komplett autarke regionale und ökologische Versorgung Berlins. Ob sie in die Praxis umgesetzt werden kann, wird sich zeigen. Über mehr »Bio für alle« würde sich jedenfalls auch Öko-Pionierin Ursula Meister freuen.

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