Hongkonger stürmen Parlament

Polizei zieht sich nach stundenlanger Belagerung des Legislativratsgebäudes zurück

  • Finn Mayer-Kuckuk
  • Lesedauer: 5 Min.

Solche Szenen sind neu in Hongkong: Die Demonstranten rammen einen Gitterwagen in die Scheibe des Parlamentsgebäudes, andere stoßen mit Stangen nach. Der 66-jährige Abgeordnete Leung Yiu-chung, eigentlich ein Unterstützer der Demokratiebewegung, versucht sich ihnen in den Weg zu stellen. Er breitet die Arme aus, ruft dazu auf, den Protest friedlich zu halten. Ein junger Mann schubst ihn beiseite, Leung stürzt. Die Scheibe geht zu Bruch.

Die Demonstranten - überwiegend junge Männer in schwarzen T-Shirts mit gelben Helmen auf dem Kopf - fangen derweil an, einen Teil der Metallfassade außerhalb des Gebäudes zu zerlegen. Dann machen sie sich über ein Rolltor her. Raum für Raum stürmen die Demonstranten das Gebäude, indem sie Glastür für Glastür mit ihren improvisierten Rammböcken aus Gitterwägen und Fassadenteilen einschlagen. Nach einer Stunde erreichen sie unter großem Jubel den Plenarsaal und nehmen die Stühle der Abgeordneten in Beschlag. Die Feuerklingel des Gebäudes bimmelt unentwegt, während die jungen Leute stundenlang einen Riesentumult veranstalten.

Der Sturm auf das Parlamentsgebäude fand am Montagabend statt - als Teil der Proteste anlässlich des Jahrestags der Rückgabe der einstigen Kolonie Hongkong an China. Die Kommunistische Partei Chinas hat den Bürgern der Wirtschaftsmetropole 1997 versprochen, Rechtsstaat und Kapitalismus für 50 Jahre zu erhalten. Doch in den vergangenen Jahren hat Peking eine schleichende Angleichung der Systeme veranlasst. Seit Mitte Juni dieses Jahres gehen junge Leute daher für Demokratie und gegen ein geplantes Auslieferungsabkommen auf die Straße.

Die Stadtregierung zeigt Loyalität zu der Regierung in Peking statt zu den Leuten auf der Straße. Die Wut der Jugend wächst - und ihre Gewaltbereitschaft. Während die Veteranen der Demokratiebewegung wie der 22-jährige Joshua Wong weiterhin auf friedfertige Protestformate bestehen, werden die Jugendlichen immer unruhiger. »Wir haben es sehr lange mit harmlosen Protesten versucht«, sagt der 18-jährige Tony Chung, der bei der Polizei bereits wegen Sachbeschädigung im Rahmen eines Protests bekannt ist. »Doch wenn sich nichts tut, müssen wir zu knackigeren Aktionen übergehen.«

Umgekehrt greift die Polizei immer härter ein. Sie setzt Schlagstöcke, Tränengas und Gummigeschosse gegen die Demonstranten ein. Auch das gab es bei der noch sehr zivilisierten ersten Protestwelle vor fünf Jahren noch nicht. Die Polizisten sprühten diesmal auch Pfefferspray auf die Menge, die durch die eingeschlagenen Türen ins Gebäude des Legislativrates drängen wollten. Später zog sie sich aber zurück und überließ das Hochhaus der Menge.

Beobachter sehen diese Eskalation mit Sorge. »Ich finde es unklug von den Demonstranten, so weit zu gehen«, sagt der letzte britische Gouverneur Chris Patten im Hinblick auf die Erstürmung des Legislativratsgebäudes dem Radiosender BBC. Die zunehmende Gewalt spiele den Gegnern der Demokratiebewegung in die Hände. »Es lenkt auch von den großen, sehr friedlichen Demos am gleichen Nachmittag ab.«

Patten sieht die Schuld jedoch auch bei der Stadtregierung. Diese habe durch ihre Handlungen Öl ins Feuer gegossen, statt die durchaus berechtigten Forderungen der jungen Leute ernst zu nehmen. Patten zeigt durchaus Verständnis dafür, dass die Emotionen nun hochschlagen.

Tatsächlich hat sich die überwiegende Zahl der Demonstranten auch am Montag wieder völlig friedlich verhalten. Die Organisatoren von der Civil Human Rights Front sprachen erneut von einer runden Million Teilnehmern - ein Siebtel der Einwohnerschaft der Stadt.

Die Hongkonger Wirtschaftselite sieht die anhaltenden Demonstrationen derweil mit gemischten Gefühlen. Die Bürgerbewegung vor fünf Jahren hat sie noch ganz überwiegend abgelehnt, weil Streit mit Peking potenziell schlecht fürs Geschäft ist. Bei den Protesten seit Mai zeigten die Unternehmer anfangs mehr Sympathie. Die Erstürmung des Parlamentsgebäudes weckt nun wiederum Angst vor Störungen der öffentlichen Ordnung und den Beziehungen zu China.

Doch unterm Strich unterstützen viele Hongkonger die Demonstranten. Die Rechtsstaatlichkeit ist Hongkongs Alleinstellungsmerkmal in China. Jenseits der Grenze herrsche die Willkür der kommunistischen Partei, und diese drohe sich nun nach Hongkong auszudehnen, sagt Politologe Willy Lam von der Chinese University of Hong Kong.

Die Wirtschaftskulturen in China und Hongkong unterscheiden sich stark. Wenn in China einem Lokalfürsten der Partei ein Projekt passt, denn wird es üppig finanziert, wenn nicht, dann hat es keine Chance. Aufträge gehen meist an Parteigenossen oder den eigenen Schwager. Das Problem ist offiziell anerkannt; Präsident Xi Jinping hat die Korruptionsbekämpfung zu einer seiner Prioritäten ernannt. Geholfen hat es bisher nur mäßig. Das Problem liegt im System. Die Partei steht über der Justiz, es gibt keine Gewaltenteilung, sie ist allmächtig. Niemand steht über oder neben ihr, um die Selbstbereicherung einzudämmen.

Hongkong war anders. In der Kronkolonie haben die Briten einen für die Region ungewöhnlich sauberen Rechtsstaat mit fairen Gerichten installiert. Der Staat greift Privateigentum und Kapital nicht an. Doch die Aufweichung der Systemgrenzen schädigt dieses Geschäftsmodell. Wenn auch in Hongkong ein Geschäftsdisput nicht mehr nach Recht und Gesetz, sondern gemäß den Interessen der Parteikader entschieden wird, verliert der Standort an Attraktivität, fürchten viele. »Die Geschäftswelt hat ihre Lektion gelernt«, sagt Wong.

Dazu kommt die steigende Angst davor, selbst nach China ausgeliefert zu werden - zum Beispiel, wenn eine Tochtergesellschaft in China dort Steuern hinterzogen hat. »Viele der Wirtschaftskapitäne mögen keine großen Fans von Demokratie sein, aber sie verstehen, dass sie für ihre wirtschaftliche Freiheit auf unabhängige Richter angewiesen sind«, so Wong.

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