Unterlassene Hilfeleistung im Mittelmeer

Sea-Watch kritisiert Untätigkeit deutscher Ministerien / Kapitänin Carola Rackete weiter in Haft

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 4 Min.

»Du sollst nicht töten - Seehofers Pokerspiel ist unterlassene Hilfeleistung« prangt auf der Fassade des Bundesinnenministeriums in Berlin. Aktivisten der Bewegung »Seebrücke« hatten in der Nacht zum Dienstag den Spruch in weißen Buchstaben auf die Außenwand des Behördengebäudes projiziert. Die Initiative ließ keinen Zweifel daran, wer für sie eine Mitverantwortung trägt: dafür, dass erneut Dutzende Schutzsuchende unter widrigen Bedingungen über zwei Wochen auf dem Rettungsschiff »Sea Watch 3« vor Lampedusa ausharren mussten; dafür, dass die Kapitänin Carola Rackete am Samstag bei der Einfahrt in den Inselhafen von der italienischen Polizei festgenommen wurde; dafür, dass die EU immer noch Menschen im Mittelmeer zur Abschreckung ertrinken lässt.

Auch die Rettungsorganisation Sea-Watch zeigte sich trotz vager Aufrufe einzelner Politiker zur Humanität mit Berlins bisherigem Handeln unzufrieden. »Wir sind sehr enttäuscht von der Bundesregierung«, sagte der Sprecher der Initiative, Ruben Neugebauer, am Dienstag in Berlin. Der italienische Innenminister Matteo Salvini habe schließlich die Häfen in seinem Land schon vor etwa einem Jahr geschlossen. »Seither hätte die Bundesregierung Zeit gehabt, eine Lösung für die Situation zu finden«, so der Aktivist. Dies sei jedoch nicht eingetreten.

Eine von Berlin geforderte europäische Lösung »wäre zwar schön«, sagte Neugebauer weiter. Aber solange Menschenrechte nicht eingehalten würden, »muss man proaktiv vorangehen«. Er verwies auf die mehr als 60 deutschen Städte, die sich bisher als »sichere Häfen« dazu bereiterklärt haben, zusätzliche Geflüchtete aufzunehmen. Darunter befinden sich nicht nur Metropolen wie Berlin, sondern etwa auch das CDU-geführte Rottenburg in Baden-Württemberg. »Das ist der Weg, wie es gehen kann«, betonte Neugebauer. »Wenn man dafür keine Lösung finden kann als eines der reichsten und größten Länder in der EU, dann ist das beschämend.«

Die Seenotrettungsorganisation vermutet hinter der gegen sie gerichteten Repression das Ziel, andere vom Helfen abzuschrecken. »Das ist ein Signal an die Handelsschiffe«, sagte Neugebauer. Deren Kapitäne würden es sich »in Zukunft zweimal überlegen«, ob sie Menschen aus Seenot retten. Bereits jetzt würden viele Besatzungen »bewusst wegschauen«, wenn sie Boote in Seenot sähen. Italienische und maltesische Militärschiffe hätten teilweise erst reagiert, nachdem sie von Sea-Watch über Notfälle informiert worden seien.

Ein italienisches Gericht sollte am Montag klären, ob Rackete vorerst weiter in Haft verbleiben soll. Die Entscheidung wurde jedoch auf Dienstag vertagt. Bis zum Redaktionsschluss befand sich die Kapitänin weiter unter Hausarrest. Innenminister Salvini hatte »schwere Strafen« gegen die 31- Jährige gefordert. Sea-Watch kann nach eigener Aussage aktuell nur über Anwälte Kontakt zu Rackete halten. Ihr gehe es aber den Umständen entsprechend gut. »Wir gehen davon aus, dass die italienische Justiz noch unabhängig ist«, sagte Neugebauer.

Die Rettungsorganisation betonte, dass sich ihre Kapitänin stets korrekt verhalten habe. Am Ende habe sie keine andere Möglichkeit gehabt, als vom sogenannten Nothafenrecht Gebrauch zu machen. Dieses regelt, in Notfällen die Häfen von Küstenstädten anzulaufen. Bereits vor der Einfahrt mussten 13 Schutzsuchende von der »Sea Watch 3« evakuiert werden. »Wir haben 16 Tage gewartet, und die Situation wurde immer schlimmer«, erklärte Sea-Watch-Mitarbeiterin Marie Naaß.

Seit der Festnahme von Rackete erhält Sea-Watch umfangreiche Unterstützung. Mehr als eine Million Euro Spenden seien bis Dienstag eingegangen. »Es ist so viel wie noch nie«, sagte Sprecher Neugebauer. »Das zeigt, dass die Zivilgesellschaft hinter uns steht.« Tatsächlich: Verschiedenste Organisationen, Politiker und Initiativen erklärten in den vergangenen Tagen ihre Solidarität mit der Kapitänin. Amnesty International warf den EU-Staaten zudem Tatenlosigkeit vor. »Man muss hier sagen, dass nicht nur Italien, sondern auch die anderen europäischen Staaten mit angeschaut haben, wie sich die Situation weiter zugespitzt hat«, sagte der Generalsekretär von Amnesty in Deutschland, Markus N. Beeko, am Dienstag. Der Fall reihe sich in vielfältige Kriminalisierungsversuche von Seenotrettern ein. »Jetzt ist hier auch die europäische Zivilgesellschaft gefragt, weiter Druck auszuüben«, so Beeko.

Auch der Verband Deutscher Kapitäne und Schiffsoffiziere hatte das Vorgehen von Rackete verteidigt. Menschen aus Seenot zu retten, sei eine Pflicht und Ausdruck von Menschlichkeit, der in einer langen Tradition der Seefahrt verankert sei, sagte Verbandsgeschäftsführer Wilhelm Mertens am Dienstag. Es sei unerträglich, mit welcher Ignoranz und Inkompetenz die EU die Lösung dringendster politischer Probleme auf Einzelpersonen abwälze, so Mertens weiter. Der Verband Deutscher Kapitäne und Schiffsoffiziere vertritt nach eigenen Angaben die Interessen von rund 1500 Kapitänen in Deutschland.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.