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Verspätung auf unbestimmte Zeit
Der Auftragsvergabe für 1500 neue U-Bahnwagen droht eine jahrelange Verzögerung
»Eine Prognose über die Länge des betreffenden Verfahrens kann nicht abgegeben werden«, lautet die Antwort der Pressestelle von Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) auf die Frage, wann die ihrer Verwaltung unterstellte Vergabekammer des Landes Berlin über eine Beschwerde von Alstom entscheiden wird. Der französische Bahntechnikhersteller lässt die Entscheidung der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) überprüfen, den Auftrag für die Lieferung von bis zu 1500 Wagen für die Berliner U-Bahn ab dem Jahr 2021 an das Schweizer Unternehmen Stadler Pankow zu vergeben.
Dass der Weg für die dringend benötigte Bestellung schnell frei wird, davon gehen Insider nicht aus. Offiziell äußern will sich dazu niemand, schließlich geht es um einen Auftragswert von mehreren Milliarden Euro und Verstöße gegen die Verschwiegenheitspflicht gefährden das Verfahren und künftige Aufträge der Unternehmen.
Aus dem Umfeld der Verkehrsbetriebe ist zu vernehmen, dass Alstom einfach ein schlechter Verlierer sei. Andere Beobachter glauben, dass die BVG die Augen vor der Realität verschließt. Solche triumphalen Töne waren aus dem Landesunternehmen schon im Vorfeld der schließlich vor dem Kammergericht gelandeten Bestellung der Ik-Züge ohne Ausschreibung zu hören. Eine krachende juristische Niederlage konnte die BVG nur abwenden, weil Kläger Siemens sich nach langen Verhandlungen auf einen Vergleich eingelassen hatte.
Auch das aktuelle, von der BVG am 12. Mai 2017 gestartete Verhandlungsverfahren mit den Herstellern über die Beschaffung von U-Bahnen inklusive Ersatzteilversorgung, weist sehr viele kritische Punkte auf, wie aus Unterlagen hervorgeht, die »nd« vorliegen.
Allein das Preisblatt, in das Hersteller alle Kostenpositionen eintragen müssen, wurde demnach in den drei Verhandlungsrunden zehn Mal von der BVG geändert, der Liefervertrag sechsmal und der Ersatzteilversorgungsvertrag fünfmal. Der Rahmenvertrag sah zunächst die Lieferung von bis zu 1050 Wagen vor, dann waren es bis zu 1500. Garantiert wurde zunächst die Abnahme von 260, dann von 606 Wagen.
In der letzten Verhandlungsrunde, die am 18. Januar 2019 begann und am 7. März endete, wurde die Anzahl der ab der Vergabe zu liefernden Fahrzeuge auf 376 Stück verdoppelt. Gleichzeitig sollte auch doppelt so schnell geliefert werden: Statt einem Vier-Wagen-Zug alle zehn Werktage sollte es nun alle fünf Werktage ein Zug sein. Statt wie ursprünglich angekündigt für den 30. September 2019 wurde die Vergabe spontan um Monate vorgezogen. Wegen des laufenden Verfahrens äußert sich die BVG auf Anfrage nicht dazu.
Schon dieses Chaos macht das Verfahren Beobachtern zufolge angreifbar. Gravierender scheint ihnen jedoch zu sein, dass die BVG keine Innovationen zugelassen hatte. »Die wollten praktisch die Züge, die jetzt fahren, neu gebaut haben«, so ein Insider. Statt auf funktionale Vorgaben, die zum Beispiel beschreiben, welche Anforderungen das Bremssystem erfüllen muss, schrieb die BVG die konkrete Technik vor, beispielsweise die Ausrüstung mit veralteten pneumatischen Bremsen. Elektrische Bremsen sind zwar teurer, sie können jedoch Strom ins Netz zurückspeisen.
Ein Hersteller könnte Pluspunkte dafür sammeln, die den etwas höheren Preis kompensieren könnten. So zählt nur der Preis, der in der Bewertung der Angebote mit 70 Prozent sowieso schon außergewöhnlich stark ins Gewicht fällt. Ob das eine gute Idee ist für eine Baureihe, die mittelfristig sämtliche Vorgängertypen ablösen soll?
Anders lief es bei der Ausschreibung der inzwischen in der Erprobung befindlichen Neubauzüge der Baureihe 481/483 für die S-Bahn. Aus leidvollen Erfahrungen sollten es keine Fahrzeuge mit lauter unerprobten Innovationen sein. Jedoch durften Komponenten zum Einsatz kommen, die sich nachweislich woanders schon bewährt hatten.
Möglicherweise Ende Juli oder auch später könnte die Vergabekammer entscheiden. Dem Vernehmen nach umfasst die aktuelle Beschwerde von Alstom bei der Vergabekammer mehrere Aktenordner. Deutlich mehr, als bei den oft substanzlosen Beschwerden, die unterlegene Bieter regelmäßig einreichen. Beobachter schätzen, dass die glimpflichste Lösung eine neu aufgesetzte vierte Runde im Vergabeverfahren mit den drei bisherigen Bietern sein könnte. Sollte Alstom trotz des angesichts des Auftragswerts hohen Kostenrisikos klagen, wäre wohl mehr als ein Jahr verloren.
Schon jetzt ist damit die geplante Auslieferung von zunächst 24 Wagen im Jahr 2021 praktisch Makulatur. Im schlimmsten Fall müsste die Ausschreibung wiederholt werden, dann könnten erste neue Züge erst im Jahr 2024 oder gar 2025 die rasant auf ihr Lebensende zurollende U-Bahn-Flotte ablösen oder gar verstärken.
Die Verzögerungen könnten zu deutlich größeren Ausfällen führen, als sie schon jetzt an der Tagesordnung sind. Auf den Linien U6, U7 und U9 gilt bereits jetzt ein Notfahrplan mit gestreckten Takten. Ende nächsten Jahres soll außerdem der durchgehende Betrieb auf der U5 vom Hauptbahnhof nach Hönow aufgenommen werden, was den Fahrzeugbedarf erhöhen wird. Zwar sind bei Stadler als Notmaßnahme ohne Ausschreibung noch weitere Züge der eigentlich für das schmalere Kleinprofil der Linien U1 bis U4 bestimmten Baureihe Ik bestellt, die für den Betrieb auf der Linie U5 unter anderem mit Trittbrettern adaptiert sind. Doch das wird wohl nicht reichen, um die voraussichtlichen Abgänge im Bestand auszugleichen.
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Denn die BVG bekommt mit dem eigentlich für das sogenannte Großprofil der Linien U5 bis U9 bestimmten Wagen ein wachsendes Problem. Die Aluminium-Wagenkästen werden zunehmend mürbe. Der Werkstoff lässt sich schlecht schweißen. Spätestens nach zwei Reparaturen ist Schluss. Mit dieser Begründung hat das Landesunternehmen bereits die ab 1979 produzierte Baureihe F79 größtenteils ausgemustert. Im Kleinprofil musste die BVG sogar erst 1992 gebaute Aluzüge bereits abstellen.
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