Gespenstisch

Das ist traurig, dass man weiß, dass die, derentwegen da plötzlich vor Deutschland gewarnt wird, durchaus so sind wie beschrieben: Weltverbesserer

  • Tim Wolff
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein Gespenst geht um in Europa, und es ist - Überraschung! - Deutschland: »Die Vorstellung aus der Zeit des Kaiser- und Kolonialreichs, wonach am deutschen Wesen die Welt genesen möge, hat auch in der Demokratie wieder Anhänger gefunden, auch wenn sich diese Ansicht jetzt in modernere Kleider hüllt.« Das ist gefährlich, weiß Berthold Kohler von der »FAZ«: »Es gab eine Zeit, da sind die Deutschen auch mit Hut ganz klein gewesen. Da hatten sie gerade den totalen Krieg und den totalen Untergang erlebt, in die sie im Vollgefühl der großdeutschen Überlegenheit marschiert waren.« Und angesichts des erneuten Erstarkens nie verschwundener faschistischer Umtriebe … Ich breche hier ab, man ahnt die Pointe. Der Politikherausgeber der »Zeitung für Deutschland« ist natürlich nicht plötzlich skeptisch, weil Nazis morden und in Parlamenten sitzen: »Die innen- und außenpolitischen Debatten vermitteln regelmäßig den Eindruck, dass man in Deutschland im Grunde alles besser weiß als anderswo. Und daher anderen gute Ratschläge geben kann, was sie tun sollten: Migranten als Bereicherung betrachten, Staatshaushalte nach deutschen Vorstellungen sanieren, den Regenwald nicht abholzen, das Spitzenkandidatenmodell anbeten.« Genau, das Land wird zu ausländerfreundlich und ökologisch, deswegen ist es wie das präfaschistische Kaiserreich.

Weil das keinerlei Grundlage hat in Zeiten des verschärftesten Asylrechts und Rekord-CO2-Austoßes, wirft der Kohler notdürftig die bisher verteidigte Austeritätspolitik mit in den Topf, im Dienste der Warnung. »Das heißt nicht, dass die deutsche Regierung auf dem europäischen Parkett nicht länger selbst- und auch machtbewusst die Positionen vertreten sollte, die sie für richtig hält und für die sie gewählt worden ist«, nämlich keine linken. »Der europäische Musterschüler sollte sich, auch wenn die Verlockung - insbesondere für die Grünen - groß ist, nicht zum europäischen Oberlehrer aufschwingen. Denn wenig lässt sich in dieser zerstrittenen EU so leicht organisieren wie der Widerstand gegen Belehrungen aus Berlin.« Brrr, Widerstand!

Es ist schlicht wahnsinnig: Kohler tut volksfreundlich naiv (»Wäre Deutschland ein Mensch, so könnte man auch über den nicht sagen, er sei perfekt. Aber man dürfte ihm durchaus zubilligen, dass er sehr an sich arbeite«), um kurz danach antideutsch ein mildes Aufbegehren gegen Massensterben im Mittelmeer und das Ende der natürlichen Grundlagen des Lebens zu delegitimieren. Dass der alternativlose Kapitalismus offenbar final versagt, ist für den gefühlten Sieger über Hitler und Stalin nicht zu verkraften. Das geht nicht nur Kohler so, sondern auch dem »Welt«-Kollegen Stefan Aust: »Vom ›Refugees Welcome‹ des Septembers 2015 bis zum ›Greta-Hype‹ des Frühjahrs 2019 zieht sich ein moralischer Bogen: die Deutschen als selbst ernanntes Vorbild für die Welt.« (siehe »Müllabfuhr« vom 5.6.) Und Eric Gujer, dem Chefredaktor der »Neuen Zürcher Zeitung«: »Sich als Moralweltmeister zu gerieren und über andere zu erhöhen, ist ein regelmäßig wiederkehrendes Feature der jüngeren deutschen Geschichte (…) Der hässliche Deutsche trägt nicht mehr Stahlhelm und Wehrmachtsuniform. Er hält stattdessen in allen Lebenslagen eine gesinnungsethische Lektion bereit.«

Es wäre lustig, wie da ein berechtigtes Misstrauen gegen Deutschland bei deutschsprachigen Nationalisten sich verfängt, wenn man nicht wüsste, dass es nur da ist, weil sie den faschistischen Schutzwall gegen die Menschen wünschen, die ihres Wirtschaftens wegen immer häufiger Zuflucht suchen müssen. Noch trauriger ist, dass man weiß, dass die, derentwegen da plötzlich vor Deutschland gewarnt wird, durchaus so sind wie beschrieben: Weltverbesserer, die nichts verbessern. Noch nicht mal Deutschland.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!