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Die Säulen der Aufklärung
Zwei neue Studien beleuchten den Misshandlungs- und Missbrauchsskandal bei den Regensburger Domspatzen
Rudolf Voderholzer, Bischof von Regensburg, hat das erste Wort und beginnt mit der Bitte um Entschuldigung bei den Betroffenen von Gewalt bei den weltberühmten Domspatzen - psychischer, physischer, sexueller. Es ist eine erneute Bitte, Aufklärung und Aufarbeitung im Bistum laufen seit Jahren. Unter Beteiligung von Betroffenen. Es gibt ein sogenanntes Aufarbeitungsgremium, einen umfassenden Untersuchungsbericht und ein Vier-Säulen-Konzept. Nach der schon bestehenden unabhängigen Anlaufstelle für Betroffene und einem Gremium für Anerkennungszahlungen wurden am Montag in Regensburg die beiden übrigen Säulen vorgestellt: eine historische und eine sozialwissenschaftliche Studie, mit denen man hoffe, einen erheblichen Beitrag zur Aufarbeitung zu leisten, so Bischof Voderholzer. Beide Studien befassen sich mit dem Zeitraum zwischen 1945 bis 1995.
»Der Chor zuerst«
Bernhard Löffler und Bernhard Frings von der Universität Regensburg zeichnen in ihrer Analyse - die mit »Der Chor zuerst« das zentrale Untersuchungsergebnis schon in der Überschrift trägt - einen Alltag, der für viele Schüler geprägt war von Gewalt in einem komplexen institutionellen System, dessen höchste Priorität das Renommee der Domspatzen war. »Der Chor, seine Finanzierung und sein Erfolg standen stets im Zentrum und waren wichtiger als individuelles Wohlergehen der Schüler oder eine kindgerechte (Internats-)Pädagogik«, bilanzieren die Forscher. »Diese Kombination aus Funktionalisierung für den Chor bei gleichzeitigem Desinteresse für die Pädagogik gewann zusätzliche Relevanz angesichts oftmaliger finanzieller Engpässe der Domspatzen.« Aus schlechter Ausstattung und schlechtem Ausbildungsstandard resultierten »Überforderung und Überlastung, die nicht selten Grund und Anlass, jedenfalls ein begünstigender Faktor für autoritäre Erziehungsformen mit körperlichen Strafen waren.« Dass die Missstände über Jahrzehnte bestehen konnten, wurde zudem durch eine »institutionelle Heterogenität und Komplexität mit vielen unterschiedlichen Instanzen, Konkurrenzen und Verantwortlichkeiten« begünstigt. Kurz: Eine Aufsicht fand nicht statt. Stattdessen beklagten die Wissenschaftler ein System des Schweigens, das nicht nur die undurchsichtigen Strukturen der Domspatzen mit verschiedenen Chören, zwei Schulen, drei Internaten, zwei Stiftungen betraf, sondern auch die zuständigen kirchlichen und staatlichen Stellen sowie Teile der Elternschaft.
Die mit der sozialwissenschaftlichen Studie beauftragte Kriminologische Zentralstelle in Wiesbaden stellten unter anderem fest, dass vor allem im Bereich der sogenannten Vorschule (3. und 4. Klasse) von einer »Totalen Institution« die alle Lebensbereiche der Schüler steuerte und kontrollierte, gesprochen werden kann. »Von zehn bekannten Faktoren, die das Risiko eines Klimas der Gewalt in Einrichtungen dieser Prägung erhöhen, waren im Untersuchungszeitraum alle zehn für die Vorschule zu bestätigen und mussten zahlreiche Schüler ein entsprechendes Klima der Gewalt erleben.« Zu diesen Faktoren - die auch von den Regensburger Wissenschaftlern festgestellt wurden - zählen etwa die Abgrenzung zur Außenwelt, mangelhafte Ausstattung, fachliche Defizite, strukturelle Defizite, autoritär-hierarchische Machtverhältnisse und das Primat der Einrichtung.
68er haben nichts damit zu tun
Entschieden wandten sich die Experten beider Forschungsstellen gegen die These des emeritierten Papsts Benedikt XVI., alias Joseph Ratzinger, der den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche mit der 68er-Bewegung erklärt hatte. Die Gewalt bei den Domspatzen sei »deutlich überwiegend« mit Ausnahme eines Einzelfalls nicht Folge der 68er-Pädagogik, erklärte Löffler. Dafür bescheinigen die Regensburger Wissenschaftler dem langjährigen Domkapellmeister Georg Ratzinger, Bruder von Joseph, »die Neigung zu Jähzorn und überzogener Strenge in Drucksituationen während der Chorproben, einschließlich der Ausübung harter Körperstrafen und psychischer Demütigungen.« Ein sadistisches System wie bei dem 1992 verstorbenen Schuldirektor und Priester Johann Meier habe es bei Ratzinger nicht gegeben. Es sei aber »ausgeschlossen«, dass Ratzinger nichts von dessen Prügelattacken gewusst habe. Mit Agenturen
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