Mario Draghis letzte Aktion

Die Europäische Zentralbank könnte ihre Geldpolitik weiter lockern - trotz Minuszinsen

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf Twitter hatte Philip Lane kürzlich seinen ersten großen Auftritt als neuer Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB). Die Notenbank besitzt aus seiner Sicht ausreichend geldpolitische Mittel, um der Wirtschaft notfalls erneut unter die Arme zu greifen. »Wir haben sicherlich die Instrumente und besitzen einen guten Leistungsnachweis bei der Antwort auf unterschiedliche Gefahrenquellen«, erklärte Lane kürzlich in einer 45-minütigen Frage- und Antwortrunde auf dem Kurznachrichtendienst. Die EZB sei bereit zu handeln, um die Inflation in Richtung des Notenbankziels zu treiben. Die Euro-Wächter streben knapp zwei Prozent Preissteigerung als bestmöglichen Wert für die Wirtschaft an, verfehlen dieses Ziel aber seit Jahren. Im Juni lag die Teuerungsrate in der Eurozone lediglich bei 1,2 Prozent.

Lane gilt als der neue starke Mann in der EZB. Chefvolkswirte hatten innerhalb und außerhalb der Notenbank immer großen Einfluss. Nun kommt hinzu, dass Präsident Mario Draghi im Oktober abtritt. Nachfolgerin des Italieners wird Christine Lagarde, die bislang keine wirklichen Erfahrungen in der Geldpolitik hat. Zugleich gilt die Französin als »Teamplayerin«. Lagarde habe schon in ihrer bisherigen Position als Chefin des Internationalen Währungsfonds auf die Kenntnisse ihres »keynesianisch orientierten Stabes« gebaut, so die Commerzbank in einer Analyse.

Eines wurde in der Twitter-Runde deutlich, schreibt das »Handelsblatt«: Lane sei bereit, die Geldpolitik notfalls weiter energisch zu »lockern«. Auch das erinnert Beobachter an die Lehren des britischen Jahrhundertökonomen John Maynard Keynes (1883-1946), die im Widerspruch zum neoliberalen Mainstream stehen. Wegen der jüngsten Wachstumsabschwächung in der Weltwirtschaft hatte Draghi bereits im Juni weitere Schritte in Aussicht gestellt, sollte die Inflation nicht anziehen. Mögliche Maßnahmen wie neue Anleihenkäufe, Zinssenkungen oder Änderungen am geldpolitischen Ausblick wurden bereits bei der letzten EZB-Ratssitzung diskutiert.

Dass Europas größte Notenbank zumindest einen der zwei Leitzinsen bald senken wird, davon gehen die allermeisten Ökonomen aus. Laut einer Umfrage der Finanznachrichtenagentur Bloomberg glauben 79 Prozent der befragten Analysten, dass der EZB-Rat diesen Donnerstag seinen »Zukunftsausblick« weiter senken wird, um die Märkte auf eine geldpolitische Lockerung vorzubereiten.

Solche Zukunftsausblicke einer Zentralbank haben erhebliche Auswirkungen auf die Finanzmarktakteure. Sie richten ihr Verhalten danach aus und nehmen spätere reale Änderungen der Leitzinsen oft vorweg. So trug Draghi im Sommer 2012 mit seinem legendären Satz, er werde alles Notwendige tun, um den Euro zu erhalten, massiv zum Ende der Eurokrise bei.

Nach Einschätzung der meisten Analysten wird Draghi nach der Sommerpause den »Einlagenzins«, der derzeit bei minus 0,4 Prozent liegt, weiter absenken. »Wir gehen davon aus, dass die EZB die Märkte mit einer Zinssenkung überraschen wird«, erklärt etwa Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. So könnte der Einlagenzins auf minus 0,6 Prozent rutschen. Den anderen Leitzins, für den sich Banken Geld bei der EZB leihen, dürfte Draghi bei null Prozent belassen.

Ein Einlagenzins wird fällig, wenn Banken Geld bei der EZB parken. Fällt der Einlagenzins auf minus 0,6 Prozent, wird dies für die Banken deutlich teurer. Der »Strafzins« kostete sie bislang schon etwa acht Milliarden Euro pro Jahr. Sie könnten zukünftig lieber mehr Kredite vergeben und mehr Wertpapiere kaufen - und damit die Inflation in Richtung der Zwei-Prozent-Marke drücken.

Draghis lockere Geldpolitik war nach der Finanzkrise erfolgreich. Banken und Wirtschaft erholten sich, die Staaten zahlten weit weniger Zinsen für ihre Schuldenberge. Kritik kam hingegen von Verbraucherverbänden, da Erspartes wegen der historisch niedrigen Zinsen kaum noch Renditen abwirft. Gleichzeitig boomten Börsen und Immobilienmärkte, was insgesamt die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößerte. Diskutiert wird daher über eine Staffelung der Zinssätze - je nach Empfänger. EZB-Chefvolkswirt Lane, zwei Jahrzehnte lang Professor für politische Ökonomie am Trinity College in Dublin, warnte in seinem Twitter-Auftritt außerdem vor Gefahren für das Wirtschaftswachstum. In der kommenden Woche könnte daher auch die US-Notenbank Fed ihre Geldpolitik weiter lockern.

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