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Dolchstoßlegende unserer Zeit
Die Verfassungsexperten Stephan Detjen und Maximilian Steinbeis zum Streit um die Flüchtlingspolitik und den Mythos vom Rechtsbruch 2015
Wer sind »die Zauberlehrlinge« in der Flüchtlingsgeschichte?
Stephan Detjen: Die Zauberlehrlinge sind Politiker, Juristen und Journalisten, die seit dem Spätsommer 2015 die These in die Welt gesetzt haben, die Bundesregierung habe mit ihrer damaligen Entscheidung, die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge aufzunehmen, das Recht gebrochen. Wirkmacht entfaltete diese Behauptung vor allem am rechten Rand der Gesellschaft.
Die Juristen Stephan Detjen und Maximilian Steinbeis analysieren in ihrem Buch »Die Zauberlehrlinge« die Entscheidung der Bundesregierung 2015, die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge aufzunehmen. Sie wenden sich gegen die Behauptung, dabei sei es rechtlich nicht korrekt zugegangen - eine Legende, die nicht nur die AfD und nationalkonservative Kreise verbreiten. Detjen leitet das Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks in Berlin. Steinbeis ist Begründer des »Verfassungsblogs«, einer internationalen Plattform für verfassungsrechtliche Debatten. Mit ihnen sprach Thomas Gesterkamp. Das Buch »Die Zauberlehrlinge. Der Streit um die Flüchtlingspolitik und der Mythos vom Rechtsbruch« erschien 2019 im Klett-Cotta-Verlag (264 S., 18 €).
Fotos: imago images, Screenshot youtube/nd
Maximilian Steinbeis: Das Buch ist ein Lehrstück. Es zeigt am Beispiel der Diskussion um die Flüchtlingspolitik, wie rechtliche Argumente wirken, wenn sie leichtfertig verwendet werden, um Stimmung zu machen oder kurzfristige politische Gewinne einzustreichen. Am Ende zahlen wir alle den Preis dafür, weil der Rechtsstaat Schaden nimmt.
Hochrangige konservative Juristen haben mit Äußerungen und Gutachten die These vom Rechtsbruch befeuert. Was kritisieren Sie an deren Positionen?
Steinbeis: Wir kritisieren zunächst einmal, wie sie die nachwirkende Autorität ihrer Richterämter im politischen Meinungsstreit eingesetzt haben. Besonders der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier hat damit auch in Karlsruhe viel Unmut hervorgerufen. Die amtierenden Richter haben sich deshalb inzwischen einen Verhaltenskodex gegeben, in dem sie sich zu stärkerer Zurückhaltung bei Gutachtertätigkeiten nach dem Ende ihrer Amtszeiten verpflichten.
Detjen: Der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio ließ sich von der CSU für ihren unionsinternen Kampf gegen den Kurs der Kanzlerin einspannen. In dem Gutachten, das er für die bayerische Staatsregierung schrieb, ist aber von Rechtsbruch gar keine Rede. Di Fabio stellte hypothetisch fest, dass eine dauerhafte Tatenlosigkeit der Bundesregierung angesichts der Flucht- und Migrationskrise verfassungswidrig wäre. Er hat ausdrücklich gesagt, dass dies auf die Situation 2015 nicht zutraf. Dennoch behauptete die bayerische Staatsregierung, das Gutachten untermauere ihre Vorwürfe und drohte mit dem Gang zum Bundesverfassungsgericht. Di Fabio hat nachträglich darauf hingewiesen, dass er nie einen Verfassungsbruch behauptet habe. Aber mit dieser Richtigstellung drang er nicht mehr durch. Er war längst zum Kronzeugen der Rechtsbruchtheoretiker geworden.
Innenminister Horst Seehofer sprach dann zum politischen Aschermittwoch 2016 sogar von einer »Herrschaft des Unrechts«.
Detjen: Das war eine Ungeheuerlichkeit. Er wollte damit in einem Zeitungsinterview die Stimmung anheizen. Wir nennen den Satz einen »Kipppunkt« der Debatte, der das politische Klima nachhaltig veränderte.
Steinbeis: Seehofer hatte den Begriff nicht selbst erfunden. Der Kölner Staatsrechtler Ulrich Vosgerau veröffentlichte unter dieser Überschrift im Dezember 2015 einen Aufsatz in der Zeitschrift »Cicero«. Der Text ist eine krude Anklage gegen die Kanzlerin, die als Kopf einer kriminellen Schleuserorganisation dargestellt wird.
Hat die Bundesregierung denn die »Dublin-Regeln« zur Zuständigkeit in Asylverfahren verletzt?
Detjen: Im Sommer 2015 stand man vor der Situation, dass das gesamte europäische Asylsystem brüchig geworden war. Viele Länder hielten sich nicht mehr an ihre Verpflichtungen zur Registrierung der Ankommenden und zur Durchführung der Verfahren. Italien, Griechenland und Österreich winkten Asylsuchende einfach durch, damit sie nach Deutschland oder Skandinavien weiterziehen.
Steinbeis: Die Dublin-Regeln erlauben es den Mitgliedsstaaten ausdrücklich, die Zuständigkeit für Asylverfahren freiwillig zu übernehmen, auch wenn an sich andere Staaten im Einzelfall zuständig sind. Die Bundesregierung hat sich 2015 auf dieses sogenannte »Selbsteintrittsrecht« berufen. Der Europäische Gerichtshof erklärte die deutsche Praxis 2017 für rechtens.
Immer wieder wird formuliert, Angela Merkel habe »die Grenzen geöffnet«. Welche Bedeutung hatte diese Einordnung in der öffentlichen Debatte?
Detjen: Das Wort Grenzöffnung markiert eine begriffliche Demarkationslinie im Streit um die Flüchtlingspolitik. Wer es verwendet, unterstellt eine Tat, durch die »Tore« oder »Schleusen« für einen massenhaften »Zustrom« geöffnet wurden. Tatsächlich aber können sich Menschen innerhalb des Schengen-Raums freizügig und unkontrolliert von einem Staat zum anderen bewegen. Die Frage war nicht, ob Grenzen geöffnet werden, sondern ob die offenen Grenzen geschlossen werden.
Der Grünenpolitiker Konstantin von Notz bezeichnete die These vom Rechtsbruch als »Dolchstoßlegende unserer Zeit«. Eine passende Beschreibung?
Steinbeis: Die Dolchstoßlegende behauptet, das deutsche Heer sei »im Felde unbesiegt« aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen und habe durch oppositionelle »vaterlandslose« Zivilisten in Deutschland einen »Dolchstoß von hinten« erhalten. Ähnlich wird die Rechtsbruchthese mit der Behauptung weitergesponnen, dass sie nie von einem Gericht widerlegt worden sei. Dabei lassen die Entscheidungen auf europäischer Ebene den Schluss zu, dass von Rechtsbruch keine Rede sein kann.
Warum ist diese Legende, wie Sie schreiben, »gefährlich für die Demokratie«?
Detjen: Wenn sich in Teilen der Bevölkerung der Eindruck verfestigt, die Regierung halte sich nicht an ihre rechtlichen Bindungen, zerstört das ein Grundvertrauen, das in der Demokratie wichtig ist. Wenn die Behauptung unwidersprochen im Raum stehen bleibt, entfaltet sie eine korrosive Wirkung.
Die CSU hat letztlich auf eine Klage vor dem Verfassungsgericht verzichtet, die AfD scheiterte aus formalen Gründen. Wäre eine Klärung auf höchster Ebene sinnvoll gewesen?
Steinbeis: Verfahrensrechtlich war es korrekt, die Klage als unzulässig zurückzuweisen. Schade ist es trotzdem. Das Bundesverfassungsgericht genießt ein Vertrauen wie nur wenige Institutionen des Rechtsstaates. Eine mündliche Verhandlung in Karlsruhe wäre eine gute Gelegenheit gewesen, alle Argumente auf den Tisch zu legen. Man kommt dort mit raunenden Mutmaßungen und steilen Thesen nicht weit.
Sie nennen die Behauptung vom Rechtsbruch einen »Treibsatz« für rechtspopulistische Bewegungen und einen »politischen Dietrich«, der den »Zugang zu bürgerlichen Milieus aufgeschlossen« habe. Wie hat das funktioniert?
Detjen: Menschen, die sich zu fein dafür waren, mit Pegida gegen Ausländer und Flüchtlinge auf die Straßen zu ziehen, konnten sich scheinbar unverfänglich darüber empören, dass Merkel 2015 »das Recht gebrochen« habe. Mit Protestresolutionen, in denen die Wiederherstellung des Rechts an den deutschen Grenzen verlangt wurde, ließ sich ein Spektrum vom offenen Rechtsextremismus bis ins akademisch gebildete Bürgertum vereinen und mobilisieren. Die AfD hat sich das zunutze gemacht.
Steinbeis: Die Bundesregierung ist den Behauptungen nicht entschieden genug entgegengetreten. Man hat lange unterschätzt, welche Wirkung sie entfalten würden. Merkel und ihre Vertrauten wollten die CSU nicht mit einer offensiven Zurückweisung ihrer Kritik provozieren.
Detjen: Der Streit erledigte sich aber nicht einfach. Im Sommer 2018 brachte Horst Seehofer die Koalition mit der Forderung nach der Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze erneut an den Rand des Bruchs. In der CDU eröffnete Annegret Kramp-Karrenbauer den Kampf um den Parteivorsitz mit der Forderung, »endgültig« zu klären, »wie wir den Herbst 2015 beurteilen«. Doch wenn man führende Christdemokraten heute nach den damaligen Entscheidungen fragt, bekommt man zu hören, man wolle sich nicht mehr mit der Vergangenheit beschäftigen. So macht man es der AfD leicht, weiter mit dem Vorwurf des Rechtsbruchs durch das Land zu ziehen.
Sie setzen sich auch damit auseinander, wie Journalisten den Mythos vom angeblichen Rechtsbruch aufgegriffen und verbreitet haben. Was ist Ihre Kritik an den eigenen Kollegen?
Detjen: Die klassisch journalistischen Medien haben zu wenig ein Forum geboten, in dem die rechtlichen Argumente ihre Autonomie behaupten konnten. Wir haben uns zu schnell darauf eingelassen, die juristischen Fragen nur im grellen Licht politischer Machtkämpfe zu betrachten.
Steinbeis: Dafür haben Medien am konservativen und rechtsnationalen Rand sehr wohl verstanden, wie sich Leser aktivieren lassen, wenn man ihnen das Gefühl vermittelt, sie seien Zeugen eines schreienden Unrechts. Die erwähnte Geschichte des »Cicero«-Artikels ist ein Beispiel dafür. Auch die Reportage »Die Getriebenen« des »Die Welt«-Journalisten Robin Alexander erzielte ihre Wirkung nicht zuletzt dadurch, dass das Bild einer Kanzlerin gezeichnet wird, der ihr eigenes Image als Flüchtlingshelferin wichtiger ist als das geltende Recht.
Gibt es zu wenig Juristen in den Redaktionen? Fehlt die Fachkompetenz?
Detjen: Es gibt erstaunlich viele Juristen im politischen Journalismus. Aber wir haben in Deutschland nie die Fähigkeit entwickelt - wie es in angelsächsischen Ländern üblich ist - Recht nicht nur als staatliche Setzung zu betrachten, sondern als Ergebnis eines offenen und öffentlichen Diskurses. Wir erinnern in unserem Buch an das Ideal des Bayreuther Staatsrechtlers Peter Häberle, der 1975 von einer »offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten« sprach. Man müsste heute darüber nachdenken, wie sich das in die digitale Kommunikationswelt der Gegenwart übersetzen lässt.
Was könnte zu einer Versachlichung der öffentlichen Debatte um die Flüchtlingspolitik beitragen?
Detjen: Die Rechtsbruchthese beruhte auf apokalyptischen Warnungen vor dem Zusammenbruch des Staates und dem Verlust von Kontrolle, Autorität und staatlicher Identität. Vier Jahre danach kann man sehen, dass all das nicht eingetreten ist.
Steinbeis: Die Gesellschaft braucht die Fähigkeit, sich über ihre Verfassung im weitesten Sinne zu verständigen. Nicht als Beharren auf einem rechtlich zementierten Status quo, Verfassung ist ein dynamischer Prozess. Das lehrt auch der Rückblick auf die 70-jährige Geschichte des Grundgesetzes, die uns durchaus ermutigen kann, mit Selbstvertrauen und Zuversicht in die Zukunft zu blicken.
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