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Misstrauen in Moskau
Kerstin Kaiser über die gewaltsam beantworteten Proteste in Russland für faire Kommunalwahlen
»Revoljuzija ljubwi« - eine »Revolution der Liebe« sollte Moskau bis zur Kommunalwahl im September ergreifen. Dafür steht Ljubow Sobol. Die Moskauer Wahlkommission aber verweigerte der Juristin aus Alexej Navalnys Anti-Korruptions-Stiftung die Zulassung als Einzelkandidatin, angeblich aus formalen Gründen. Dieses Schicksal traf auch Dmitrij Gudkow (Partei der Wende) und Ilja Jaschin (Ex-Jabloko), neben Sobol die medialen Gesichter des Protestes. Insgesamt wurden 57 Bewerber*innen aller politischen Couleur abgelehnt.
Damit begann in Moskau vor zwei Wochen eine Protestwelle für faire, ehrliche Wahlen und Zulassung aller Bewerber*innen. Der Demonstration mit mehr als 20 000 Teilnehmer*innen folgten nicht genehmigte Protestaktionen; die Bilder von friedlichen Demonstrant*innen und gewalttätigen Polizisten, von Verletzten und Festgenommenen gingen um die Welt. Fast täglich gibt es spontane Protestaktionen der Unterstützer*innen von Sobol, die einen Hungerstreik begonnen hat.
Was die Moskauer Wahlkommission bewegte, bei der Prüfung der Anträge so unprofessionell, willkürlich und arrogant zu agieren, ist unklar. Eigentlich konnte sie kein Interesse daran haben, die Metropole in eine Spirale von Unsicherheit, Polizeipräsenz und Gewalt zu treiben. Moskaus Straßen und Parks sind Tag und Nacht voll mit Tourist*innen aus aller Welt, Hunderttausende besuchen berühmte Ausstellungen und Musikfestivals.
Überhaupt ist die Regierungspartei »Einiges Russland« (ER) schlapp wie nie: In den Umfragen für Moskau sank sie seit April von 22,2 auf 13 Prozent. Viele Moskauer*innen setzen auf unabhängige Kandidat*innen. Deshalb reichte ER keine Parteiliste ein und schickte ihre Leute »unabhängig« ins Rennen. Die Kommunisten haben mehrere parteilose Aktivist*innen auf ihrer Liste, z.B. Anastassija Udalzowa. Nach den Protesten 2018 gegen die Rentenreform ist die Partei leicht im Aufwind.
Die Willkür bei Nichtzulassung von Kandidat*innen war wohl der berühmte Tropfen, um das Stimmungsfass vieler Moskauer*innen zum Überlaufen zu bringen. Seit Jahren sinken deren Löhne, bei steigenden Wohnkosten. Alltagsplanung und Lebensperspektiven sind unsicher. In den großen Städten Russlands sind junge Leute unzufrieden und protestbereit. Das wissen Regierung und Opposition. Bei den Kommunalwahlen könnte diese Stimmung die Linken stärken, die bisher nur fünf von 45 Duma-Abgeordneten in Moskau stellen.
Sergej Udalzow, Wahlkoordinator der »Linksfront«, unterstützt die Proteste für faire und freie Wahlen. Er warf der Wahlkommission vor, die Opposition provoziert zu haben. Udalzow arbeitet für eine linksdemokratische Plattform, die sich in Gesellschaft und Parlamenten als konstruktive Opposition engagiert. Diese »Dritte Kraft« wäre in Russland neu. Wohl deshalb ging Sobols »revolutionäre Liebe« nicht so weit, jetzt mit den Linken zu kooperieren.
Nebenbei bemerkt trifft auch Sobol und Jaschin öffentlich Kritik. Valeria Kassamara, Rektorin der freien Hochschule für Ökonomie, wurde nahegelegt, im Wahlkreis 45 nicht anzutreten, um den Weg für Jaschin frei zu machen. Ihre Wahlteams wurden beschimpft und bedrängt. Die Radiojournalistin Ljesja Rjabzewa von »Echo Moskau«, Kandidatin für Gerechtes Russland, wirft ihnen vor, auf Krach und Provokation aus zu sein. Nicht nur sie wundert, dass es Sobol als Juristin nicht gelingt, einen unanfechtbaren Antrag auf Registrierung zur Wahl einzureichen.
Udalzowa, Kassamara und Rjabzewa sind seit Jahren in den Medien und Moskaus Höfen präsent. Sie arbeiten an einer sozialen und demokratischen Agenda für die Stadt, gegen die Verwaltung von Bürgermeister Sobjanin. Sie plädieren für ein Ende von Gewalt und Provokationen, um sich im fairen Wahlkampf aber ebenso scharf mit den neoliberalen Opponenten auseinanderzusetzen.
Tatsächlich ist das politische Klima in Moskau von Kompromisslosigkeit und dem Misstrauen aller gegen alle geprägt. Es ist offen, ob und wie die Spirale aus gegenseitiger Provokation und Polizeigewalt gestoppt werden kann.
Sobjanins Leute haben sich festgefahren. Wenn sie jetzt zurückrudern, wäre das ihr politischer Offenbarungseid. Sie könnten auch die Führung der Wahlkommission austauschen. Aber die Wahlergebnisse sind bereits jetzt kontaminiert. Die Proteste würden nach dem 8. September weitergehen. Bleibt vielleicht nur, die Wahl zu verschieben?
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