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Vom Papier auf die Straße

Die Konzepte für die Verkehrswende sind da, sie müssen aber umgesetzt werden.

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 6 Min.

Man muss dem Autoverkehr Platz wegnehmen«, sagt Jason Krüger mit Bestimmtheit. »Er nimmt zwei Drittel der Straßenfläche in Beschlag, obwohl er höchstens ein Drittel des Verkehrs darstellt«, begründet er ganz rational seine Forderung. Um das Ziel durchzusetzen, war er zuletzt am Samstag der Vorwoche auf der Straße, genauer der Sonnenallee in Berlin-Neukölln. Er war nicht allein. Mit Musik und Transparenten zogen Hunderte über die Ausfallstraße und machten sie so für Stunden zur autofreien Zone. Es ist das vierte Mal, dass die Initiative autofreiberlin, die von Krüger zusammen mit drei Freunden zu Jahresbeginn ins Leben gerufen wurde, in der Hauptstadt Straßen temporär blockiert hatte, um sie so zurückerobern.

»Uns treibt der Unmut darüber an, dass die Politik unter Rot-Rot-Grün so mutlos agiert«, erklärt er. »Es geht alles sehr zäh voran«, beklagt er sich. »Die Verkehrswende besteht nicht daraus, Radstreifen mit Farbe anzupinseln«, stellt er klar. »Es wird viel geplant in der Stadt und wenig umgesetzt. Da müssen wir der Politik auf die Füße treten«, bekräftigt der Aktivist. Nach fast drei Jahren Regierungszeit hätte er von der Koalition mehr erwartet. In Kopenhagen gebe es zum Beispiel Ampelschaltungen, die auf Fahrradfahrer ausgerichtet seien. »Es kann nicht sein, dass es fünf oder zehn Jahre dauert, so etwas umzusetzen.« Und dann gebe es Maßnahmen, die noch viel schneller auf die Straße zu bringen seien. Tempobeschränkungen, Busspuren oder die Montage von Pollern, um Radstreifen zu schützen.

Die geforderte Verkehrswende geht gleich zwei Probleme an. Die Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs schafft den dringend benötigten Platz für anderes in der Stadt, außerdem muss der riesige Kohlenstoffdioxid-Fußabdruck kleiner werden. Der Verkehrsbereich ist für 42 Prozent der Emissionen in der Hauptstadt verantwortlich. Und im Gegensatz zu allen anderen Sektoren sinkt der CO2-Ausstoß dort bisher nicht.

»Es ist grober Unfug zu sagen, dass noch gar nichts passiert ist. Wir haben bei vielen Dingen den Hebel umgelegt«, sagte Umwelt-, Verkehrs- und Klimasenatorin Regine Günther (Grüne) bei der Sommerklausur der Fraktion Anfang August. Ein Beispiel sei der Nahverkehrsplan 2019-2023. Das mit Anhängen mehrere Hundert Seiten dicke Dokument legt die Perspektive des öffentlichen Personennahverkehrs wegen der langen Investitionszeiträume bis ins Jahr 2035 fest. Im Mobilitätsgesetz ist die Umstellung des Busverkehrs auf nicht fossile Antriebe bis 2030 vorgeschrieben.

Elektrobusse werden tatsächlich in nennenswerter Anzahl beschafft. 30 zwölf Meter lange E-Stadtbusse sind bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) in der Inbetriebnahmephase. Dabei handelt es sich um sogenannte Depotlader, deren Akku hauptsächlich über Nacht aufgeladen werden. Sie haben einige Nachteile. Die Reichweite ist auf 150 bis 200 Kilometer begrenzt, die Batterien sind schwer, aus Brandschutzgründen dürfen die im Betriebshof nicht dicht an dicht wie herkömmliche Busse geparkt werden, und es braucht dort eine neu zu bauende leistungsstarke Stromversorgung. Ein E-Bus kostet etwa 250 000 Euro mehr als ein Dieselbus, bei einem Zwölf-Meter-Stadtbus entspricht das dem doppelten Preis. Bei einem Gelenkbus relativiert sich der Mehrpreis schon etwas. »Die Wirtschaftlichkeit steht und fällt mit der Batterielebensdauer. Hält sie wirklich sechs Jahre, also ein halbes Busleben, dann sind die Gesamtkosten nicht höher als bei einem Dieselbus«, sagt Martin Schmitz, Technikgeschäftsführer beim Verband Deutscher Verkehrsunternehmen zu »nd«. »Elektrobusse sind im Betrieb günstiger, unter anderem, weil sie weniger Wartung benötigen«, so Schmitz weiter. Er fordert allerdings eine Senkung der EEG-Umlage und der Stromsteuer für elektrischen Nahverkehr. Weitere 90 E-Busse sind bestellt, die ab 2020 ausgeliefert werden sollen.

Die BVG setzt auch auf sogenannte Endstellenlader. 15 E-Gelenkbusse sollen ab kommendem Jahr auf der Touristenlinie 200 vom Zoo über den Alexanderplatz bis zur Michelangelostraße pendeln. Sie haben kleinere Akkus, die an der Endhaltestelle nachgeladen werden. »Prinzipiell ist eine kleine Batterie wirtschaftlicher, allerdings geht das mit höheren Infrastrukturkosten einher«, erklärt Schmitz. Bei den Endstellenladern wird eine gewisse Ladezeit benötigt, in der Bus und Fahrer nicht fahren können, das reduziert die Effizienz im Betrieb. »Die Stadt Hamburg sagt: Wir haben keinen Platz, um möglicherweise fünf oder sechs Gelenkbusse an der Endhaltestelle zum Laden abzustellen«, nennt der Ingenieur einen weiteren Nachteil.

»Technisch und betrieblich ist der Oberleitungsbus ideal. Es reichen kleine Batterien, die während der Fahrt geladen werden«, sagt Schmitz. Drei Betriebe gibt es noch von einst an die 70 in Deutschland, der nächstgelegene ist in Eberswalde. Die Stadt musste in den vergangenen Jahrzehnten ganz schön kämpfen, um den Betrieb zu erhalten. Es gibt aber auch Nachteile, denn mit Oberleitungen und Unterwerken für die Stromversorgung wird Infrastruktur auf der Strecke benötigt. »Damit tun sich Bürger und Kommunen oft schwer«, so Schmitz’ Erfahrung.

Tatsächlich sieht der Nahverkehrsplan auch die Wiedereinführung des O-Busses vor. Wegen der Batterien müssen nur für etwa die Hälfte der Linienlänge Oberleitungen gezogen werden. Durch die geschickte Wahl der Abschnitte - vor allem dort, wo sich mehrere Linien überlagern - kommt man, bezogen auf das Gesamtnetz, sogar mit einem knappen Viertel der Linienlänge aus. Laut Plan soll bereits 2022 dieses Verkehrsmittel seine Wiederauferstehung feiern. Eine Machbarkeitsstudie für ein erstes Teilnetz liege vor, bestätigt die Senatsverkehrsverwaltung auf nd-Anfrage. »Wir sind derzeit dabei, die Ergebnisse auszuwerten und die weiteren Schritte, die sich daraus ergeben, zu klären«, heißt es. Zeitliche Angaben könnten dazu realistisch erst getroffen werden, wenn die Prüfung abgeschlossen sei, endet die für Berliner Ohren unheilvolle Antwort.

Denn bei den Straßenbahnprojekten, die laut Koalitionsvertrag bis 2021 in Betrieb genommen werden sollten, ist ein Ende der Planfeststellungsverfahren nicht absehbar. »Die, die in der Verwaltung die Straßenbahnstrecken planen, machen das so, dass vor allem der Autoverkehr nicht gestört wird. Da muss man sich nicht wundern, wenn es Widersprüche gegen die Planung gibt«, erklärt Andreas Schaack von der Interessengemeinschaft Nahverkehr der Berliner Linkspartei. Ein O-Busnetz für Berlin nicht in Konkurrenz zur Straßenbahn fordern er und seine Mitstreiter bereits seit 2012.

Infrastrukturbau sei in Deutschland wegen der aufwendigen Planfeststellungsverfahren einfach schwierig, sagt Martin Schmitz. »Der Bund muss bei Baumaßnahmen, die der CO2-Reduzierung dienen, ein abgespecktes Genehmigungsverfahren finden«, fordert er. »Bis 2030 ist es nicht mehr lange hin, wir müssen jetzt anfangen, die Infrastruktur zu bauen«, appelliert Schmitz.

»Ohne attraktiven Öffentlichen Personennahverkehr gibt es keine Verkehrswende«, warnt Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband IGEB. Von Mahlsdorf in das Gymnasium im Marzahner Plattenbaugebiet braucht ein Kind aus seiner Verwandtschaft eine Stunde mit der BVG, berichtet er. »Mit dem Auto sind es 20 Minuten«, so Wieseke. Senat und Bezirke müssen die Verkehrswende vom Papier auf die Straße bringen.

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