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Auf Zugsuche
Viele Teile Brandenburgs werden veröden, lauteten die Prognosen. Es kam anders. Nun ist die Infrastruktur Topthema im Wahlkampf.
Vom Gewerbegebiet in Dahlewitz rüber zu den Wohnsiedlungen von Rangsdorf sind es knapp zwei Kilometer. Doch mit dem Auto kann die Zeit bis zur Ankunft wegen einer Baustelle sehr lang werden. Mit dem Fahrrad geht es schneller, unter Umständen ist sogar ein Fußgänger früher am Ziel. Allerdings müssen Radfahrer über holperiges Kopfsteinpflaster stuckern, es gibt auch abschüssige Passagen mit sandigen Stellen, an denen man leicht stürzen kann.
Auf seiner Wahlkampftour durch Brandenburg hat CDU-Spitzenkandidat Ingo Senftleben diesen Weg ausprobiert. Unterwegs nach Rangsdorf südlich von Berlin stoppte er mit seinem Parteifreund Robert Trebus auf der Brücke über den Autobahnring um Berlin. Trebus hat ihm gezeigt, wo die Station der S-Bahn hinkommen soll, auf die Arbeiter von Rolls Royce, die in Dahlewitz Flugzeugtriebwerke montieren, und andere Berufspendler schon lange warten. Im Sommer 2018 hat Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) den Beschäftigten die Verlängerung der S-Bahnlinie von Blankenfelde über Dahlewitz bis Rangsdorf versprochen. Doch die Umsetzung eines solchen Vorhabens dauert Jahre. Auch anderswo in Brandenburg mangelt es an ausreichenden Zugverbindungen. Täglich pendeln mehr als 215 000 Brandenburger zur Arbeit nach Berlin und etwa 88 000 Berliner nach Brandenburg. Bewohner von Blankenfelde-Mahlow und anderen Städten und Gemeinden leiden unter den Blechlawinen, die sich durch die Straßen wälzen und Lärm und Dreck mit sich bringen.
- »Nächster Halt: Verkehrswende!« Unter diese Überschrift hat die LINKE ein Kapitel in ihrem Landtagswahlprogramm gestellt. Dem »Verkehrsinfarkt«, der auf fast allen Hauptdurchgangsstraßen der Städte und Gemeinden mindestens im Berufsverkehr drohe, will die Partei entgegensteuern. So soll der öffentliche Personennahverkehr deutlich attraktiver gestaltet werden, »um mehr Menschen den Umstieg vom Auto in Busse und Bahnen zu ermöglichen.«
- Die SPD verspricht: »Wir stocken das Angebot im Schienennahverkehr um etwa ein Drittel auf.« Ab 2022 sollen im Regionalverkehr rund fünf Millionen zusätzliche Zugkilometer gefahren werden. Von Mittelzentren aus soll Berlin schneller mit Bus und Bahn zu erreichen sein.
- »Wir werden eine Kehrtwende einleiten, indem wir ein leistungsfähiges Mobilitätskonzept für Brandenburg mit häufigeren, direkteren und schnelleren Verbindungen umsetzen«, steht im sogenannten Regierungsprogramm der CDU. »Wir werden dafür sorgen, dass die Brandenburger das ganze Land verlässlich mit dem ÖPNV erreichen können.«
- Die AfD kritisiert aus ihrer Sicht sinnlose Vorfahrtsregeln, ungünstig geschaltete Ampeln und Tempo-30-Zonen an Hauptstraßen. Sie will Straßen neu bauen und zum Beispiel ein Sonderinvestitionsprogramm für Ortsumfahrungen auflegen. Gleichzeitig verspricht sie, den öffentlichen Personennahverkehr auszubauen.
- Die Grünen wollen zehn Millionen Euro pro Jahr mehr für den öffentlichen Personennahverkehr ausgeben und weitere zehn Millionen pro Jahr für Straßenbahnen zur Verfügung stellen. Straßen wollen sie erhalten statt neue zu bauen. Es soll »überall in Brandenburg möglich sein, ohne ein eigenes Auto ein gutes Leben zu führen«. af
Die Infrastruktur ist Meinungsumfragen zufolge für die Brandenburger das Wahlkampfthema Nummer eins, der Dauerbrenner Bildung steht erst auf Platz zwei. Die Asylpolitik interessiert viele Menschen nur noch mäßig.
Dem CDU-Politiker Senftleben, der innerhalb von fünf Wochen gut 700 Kilometer durch das Bundesland gewandert, gepaddelt und geradelt ist, sind bei seiner Wahlkampftour vielerorts ähnliche Sorgen geschildert worden. Er hat daraus gelernt: »Die Brandenburger wollen umsteigen auf Bus, Bahn und Fahrrad.« Senftlebens Schlussfolgerung: Sollte er nach der Landtagswahl am 1. September Ministerpräsident werden, will er durchaus für die Sanierung von Straßen sorgen, aber beim Ausbau sollen Schienen und Radwege Vorrang haben. Dabei ist Senftleben bewusst, dass so eine Ansage »in der Union nicht nur Begeisterung auslöst«.
Binnen fünf Jahren ist die Zahl der Pendler in Brandenburgs Regionalzügen um 40 Prozent gestiegen. »Die Kapazitäten sind nicht so mitgewachsen, wie es nötig wäre«, bedauert der DGB-Landesbezirkschef Christian Hoßbach. »Die meisten Pendler kennen das Gefühl, wie die Sardine in der Büchse zur Arbeit zu fahren.« Zwischen 2012 und 2017 sei die Zahl der insgesamt gefahrenen Zugkilometer - es waren pro Jahr 35 Millionen - in Brandenburg überhaupt nicht gestiegen. Im Frühjahr 2019 sei dann die Zahl der Plätze in einigen Regionalzügen deutlich aufgestockt worden, doch der Handlungsbedarf sei nach wie vor riesig. »Wir brauchen mindestens Stundentakt im gesamten Land, mehr Züge und entschiedene Investitionen in die Infrastruktur«, sagt Hoßbach.
Zu der Fehlentwicklung ist es gekommen, weil die Politik lange Bevölkerungsprognosen geglaubt hat, die sich in Teilen als unzutreffend erwiesen haben. Demnach sollten die Einwohnerzahlen im Berliner Speckgürtel steigen - soweit haben sich die Vorhersagen auch erfüllt. Außerhalb dieser Zone von 30 Kilometern rund um Berlin stellte sich die Verwaltung auf einen starken Schrumpfungsprozess ein. Doch in den vergangenen Jahren entstand in Berlin und im direkten Umland eine derart krasse Wohnungsnot, dass nicht mehr nur junge Familien aufs Land ziehen, die sich ein Eigenheim leisten wollen und können. Es finden sich nun auch aus Berlin verdrängte Mieter in den Städten und Gemeinden in der sogenannten zweiten Reihe ein. Dort sind noch bezahlbare Quartiere zu finden, dort sind Wohnungen im Durchschnitt 21 Prozent billiger als in Berlin. Von der Differenz lässt sich eine Monatskarte finanzieren und es bleibt auch noch etwas übrig. Es hängt allerdings alles an einer vernünftigen Bahnverbindung.
»Wenn der Zug kommt, kommt der Zuzug«, sagt Wolfgang Schönefelder, Leiter der Potsdamer Geschäftsstelle des Verbandes der Berlin-Brandenburgischen Wohnungsunternehmen (BBU), der in erster Linie Wohnungsgenossenschaften und kommunale Wohnungsgesellschaften organisiert. Einige Berliner Genossenschaften sind bereits dazu übergegangen, für ihre Mitglieder Wohnungen in Brandenburg zu bauen, weil hier die Grundstückspreise noch erschwinglich sind - und weil es vielerorts eine »Willkommenskultur« für Bauherren gebe, wie BBU-Vorstand Maren Kern anmerkt.
Als Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) noch eine Kreisgebietsreform durchsetzen wollte, die er mit dem demografischen Wandel begründete, hat CDU-Fraktionschef Senftleben geschimpft, die rot-rote Koalition gehe von falschen Prognosen aus. Schließlich erkannte auch die Landtagsabgeordnete Andrea Johlige (LINKE), dass die Kreisreform am Ende vielleicht deshalb abgesagt werden musste, weil viele Bürger nicht verstehen konnten, warum die Regierung ihnen von sich entleerenden ländlichen Räumen erzählt, während sie selbst schwer eine Wohnung finden. Eine Enquetekommission des Landtags stellte fest, dass das alte Schema vom Wachstum ausschließlich im Berliner Speckgürtel und vom Schrumpfen jenseits dieses Gürtels die Verhältnisse nicht mehr beschreibt.
Es gibt sie noch, die abgelegenen Dörfer, die unter Wegzug leiden. Es gibt aber auch Gegenbeispiele. Der erste, der die Entwicklung nicht vorausahnen konnte, aber schon vor 15 Jahren in die richtige Richtung dachte, war der damalige Landesvorsitzende der Linkspartei, Thomas Nord. Er warnte seinerzeit davor, Zukunftsentscheidungen allein an Bevölkerungsprognosen zu orientieren, von denen niemand wissen könne, ob es wirklich so schlimm kommen werde wie vorhergesagt. Aber dass es sogar aufwärts geht, hätte niemand erwartet. Entsprechend unvorbereitet ist die Politik in die jetzige Lage geschlittert. Nun sitzen Pendler wahlweise in überfüllten Züge oder reihen sich in lange Autostaus ein. Immerhin können sie am 1. September bei der Wahl entscheiden, welches Verkehrskonzept sie am meisten überzeugt.
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