- Politik
- Renata Souza
»Rio ist ein Labor der Grausamkeiten«
Die Politikerin Renata Souza über Polizeigewalt in Brasiliens Favelas und ihre ermordete Kollegin Marielle Franco
Sie haben den Gouverneur von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, bei der UNO angeklagt. Warum?
Bei den Polizeioperationen in den Favelas von Rio de Janeiro sterben viele Menschen. Die Rechnung der Landesregierung: Je mehr Menschen bei Einsätzen getötet werden desto erfolgreicher ist der Einsatz. Diese Politik tritt Menschenrechte mit Füßen. Im Mai habe ich dann Witzel bei der UNO und der Organisation Amerikanischer Staaten angeklagt, um auf die Eskalation der Gewalt aufmerksam zu machen.
Aber Rio de Janeiro war doch vorher schon extrem gewalttätig.
Klar, auch vorher gab es viel Gewalt. Aber es kam nicht in einem Viertel an vier Tagen am Stück zu Polizeioperationen. Die Zahl der Toten bei Polizeieinsätzen ist enorm gestiegen: In den ersten sechs Monaten tötete die Polizei mehr als 800 Menschen. Außerdem ist der Einsatz von Hubschraubern zum Standard geworden. Die Hubschrauber werden von der Zivilpolizei geflogen, die eigentlich ermitteln und nicht solche Einsätze durchführen sollte. Bei einer Operation flog Witzel selbst mit. Polizisten feuerten aus der Luft Schüsse auf ein Zelt ab, das von Evangelikalen verwendet wurde. Nach dieser Aktion zeigte ich Witzel an.
Was ist dann passiert?
Als Vergeltung für unseren Bericht hat Witzel erklärt, mir mein Mandat zu entziehen. Am Tag darauf reichte seine Partei einen entsprechenden Antrag im Stadtparlament ein. Dieser wird vom Präsidenten des Parlaments aber bisher nicht weitergeführt, weil der Antrag ein Eingriff in die Legislative bedeutet. Trotzdem werde ich weiter von Regierungsvertretern bedroht und eingeschüchtert.
Sie kommen aus dem Favela-Komplex Maré - einer der Stadtteile, die am schlimmsten von staatlicher Repression betroffen ist. Wie ist es, dort aufzuwachsen?
Ich weiß ganz genau, wie es sich anfühlt, wenn Hubschrauber über dein Haus fliegen und Kugeln dein Dach durchlöchern. Bei Polizeieinsätzen steht alles still: keine Schule, niemand auf der Straße, alle Geschäfte schließen. Die Bewohner können die Favela nicht verlassen und verlieren ihre Jobs. Alleine in der Maré sind im ersten Quartal elf Schultage wegen Schießereien ausgefallen. Erst am Freitag wurde ein Schüler an einer Bushaltestelle von einer verirrten Kugel getötet.
Warum macht gerade Rio de Janeiro immer wieder Schlagzeilen?
Zwar machen die Bundesstaaten ihre eigene Sicherheitspolitik, aber Rio de Janeiro war schon immer ein Labor für den Rest des Landes. Ein Labor für die schlimmsten Grausamkeiten - mit den schwarzen Bewohner der Favelas als Versuchsratten.
Sie sprachen einmal davon, dass die Methoden von Witzel »Lautsprecher von Bolsonaros Politik« sind. Was meinen Sie damit?
Bolsonaro hat im Wahlkampf erklärt, dass seine Sicherheitspolitik eine Politik der harten Hand und der Militarisierung sein wird. Genau das setzt Witzel in Rio de Janeiro um. Es wird der Begriff »Narcoterrorismus« benutzt, um eine Kriegslogik zu rechtfertigen. Aber auch im Krieg gibt es Regeln: Waffenstillstand, Schutz von Flüchtlingen, Anklage von Kriegsverbrechen. In den Favela gibt es all das nicht. Witzel erklärt einen Kriegszustand, aber respektiert die Bedingungen des Krieges nicht.
Die brasilianische Politik ist traditionell ein Ort für weiße, heterosexuelle Männer. Wie sind sie überhaupt dorthin gekommen?
Lange Zeit hatte ich eine Abneigung gegen Politik. Sie war einfach nie ein Ort für uns. Wir werden dort nicht repräsentiert - weder mit Gesichtern noch mit Themen. Mit 16 habe ich angefangen, mich in meiner Favela gegen Gewalt zu engagieren. Irgendwann lernte ich Marielle Franco kennen.
Ihre ermordete Parteikollegin.
Genau. Wir begannen, uns politisch zu organisieren. Damals haben wir über Gewalt gegen Frauen gesprochen, wussten aber nicht, was Feminismus bedeutet. Wir haben Politik ausgehend von unserer Erfahrungen in den Favelas gemacht. Als Marielle sich als Kandidatin für den Stadtrat aufstellen ließ, koordinierte ich ihren Wahlkampf. Als sie gewählt wurde, wurde ich ihre Büroleiterin - bis sie ermordet wurde.
Nun sind sie selbst in den Stadtrat gewählt worden. Warum haben Sie kandidiert?
Eigentlich wollte ich nicht antreten. Aber als Marielle ermordet wurde, gab es keine andere Wahl. Viele Leute sagten mir damals: Verlasse Brasilien, sonst wirst du die nächste sein. Aber ich muss das Erbe von Marielle und das, was wir zusammen aufgebaut haben, aufrechterhalten.
Seit dem 1. Januar sitzen Sie zusammen mit zwei schwarzen Parteikolleginnen im Stadtparlament. Wie waren die Reaktionen?
Wir werden nicht ernst genommen. Meine Kollegin Mônica Francisco wurde zum Beispiel nicht in den Aufzug für die Abgeordneten gelassen, weil das Sicherheitspersonal sie nicht für eine Politikerin hielt. Das ist der strukturelle Rassismus, den wir tagtäglich erleben. Andere Abgeordnete schneiden mir das Wort ab, oft höre ich sexistische Bemerkungen. Aber ich wehre mich dagegen und lasse den Kopf nicht hängen.
Wie hat sich ihr Leben verändert, seit sie gewählt wurden?
Ich habe keine Freiheit mehr. Ich muss mit einem gepanzerten Wagen fahren, habe private Sicherheitsmänner, die mich rund um die Uhr beschützen. Früher habe ich gerne mit Freunden draußen ein Bier getrunken. Das geht nicht mehr. Meine Freiheit ist beschnitten, damit die Freiheit von anderen geschützt wird. Und was mich ebenfalls weitermachen lässt, ist der Gedanke, dass eine Person für unsere Ziele gestorben ist. Meine Freundin Marielle.
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