Sind die Marktplätze nicht schön geworden?

Aus den Klischees über Ostdeutschland entspringt eine Fehlanalyse des Rechtsrucks, so die LINKE-Vorsitzende Katja Kipping

  • Katja Kipping
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»Die Marktplätze im Osten sind so hübsch geworden, die Häuserfassaden sehen so schön aus. Warum sind die Leute hier nur so unzufrieden?«, fragte mich neulich eine Journalistin, die interessiert, aber auch befremdet auf den Osten schaute. Ja, Fassaden – das kann der Kapitalismus, dachte ich und suchte nach einer Antwort, die außerhalb Ostdeutschlands verstanden wird. Wenige Tage später fragte mich ein Dresdner: »Wie soll ich mit meiner kleinen Rente über die Runden kommen? Nach der Wende war es nun mal schwer, im Job neu Fuß zu fassen. Werde ich jetzt mit einer Hungerrente dafür bestraft?« Zwei Fragen, die viel aussagen – über den Zustand der inneren Einheit.

Es gibt ein neues Interesse am Osten. Doch auch in die Aussagen der Wohlmeinenden schleichen sich immer wieder Klischees über die Ostdeutschen ein. So gilt der Ossi als autoritätsfixiert und störrisch. Wie undankbar, wo doch die Fassaden und Marktplätze im Osten so hübsch geworden sind. Wirklich groß ist das Interesse an Ostdeutschland erst dann, wenn es Dunkles zu vermelden gibt. Wenn Neonazis marschieren oder eine völkische Partei gewählt wird. Allein dieser Umstand offenbart: Wir haben ein Problem mit der inneren Einheit, wenn der Osten nur dann eine Nachricht wert ist, wenn es dort ein Problem gibt.

Katja Kipping
Katja Kipping ist eine von zwei Vorsitzenden der Partei DIE LINKE. Die 41-Jährige ist in Dresden geboren. Dort hat sie bis heute ihren Bundestagswahlkreis. Kipping zog 1999 in den sächsischen Landtag ein. Im Jahr 2005 wurde sie erstmals in den Bundestag gewählt, dem sie bis heute angehört. Bis zu ihrer Wahl zur Ko-Vorsitzenden der Linkspartei war sie Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales.

Hinzukommt: In all den bundesdeutschen Klischees über den rückwärtsgewandten Osten schwingt immer mit: Hier rege sich etwas aus der Vergangenheit. Mich beschleicht dabei seit längerem ein ungutes Gefühl.

Wer, wie die bundesdeutschen Meinungseliten, den Aufwind des Autoritären zeitlich in der Vergangenheit und örtlich im Osten sucht, analysiert zielsicher am Ernst der Lage vorbei. Und gerade das ist das eigentlich Gefährliche. Führt die falsche Analyse doch zwangsweise zu falschen Schlüssen.

Im Osten regt sich, was zukünftig überall drohen kann

Womöglich regt sich hier im Osten nicht etwas, was noch von früher übriggeblieben ist. Wie einfach wäre das, dann würde es sich ja mit der Zeit von selbst erledigen. Womöglich – und darin liegt die eigentliche Brisanz – wird im Osten nur etwas vorweggenommen, was in Zukunft in ganz Deutschland droht und was weltweit zunimmt. Die autoritäre Internationale der Demokratieverachtung hat inzwischen viele bekannte Mitglieder: von Salvini in Italien über Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien bis Orban in Ungarn. Spätestens seit dem Staatsstreich von Johnson gegen das britische Parlament ist offensichtlich: die Missachtung aller demokratischen Regeln lässt sich nicht auf die früheren Ostblockstaaten begrenzen.

Dass diese neue Begeisterung fürs Völkische und Autoritäre im Osten stärker ausgeprägt ist, liegt auch daran, dass hier 30 Jahre lang besonders intensiv sich das austobte, was den Rechten in die Hände spielt: ein neu aufgelegter Marktradikalismus. Und deshalb ist der Rechtsruck kein Problem des Ostens, sondern eines der Bundespolitik. Wenn nicht bald umgesteuert wird, drohen ostdeutsche Verhältnisse im ganzen Land.

Schuldabwehr-Reflex der bundesdeutschen Eliten

Doch das Umsteuern wird blockiert – auch durch falsche Deutungsmuster. Zur falschen Analyse gehört die Unterstellung: DIE LINKE sei schuld am Aufstieg der AfD. Aktuelles Beispiel dafür sind die Einlassungen des Ostbeauftragten der Bundesregierung. Hier offenbart sich eine Gefühlslage der Westdeutschen. Indem die bundesdeutschen Eliten der LINKEN die Schuld in die Schuhe schieben, verschweigen sie ihre eigene Verantwortung für die zentralen Ursachen: die Demütigungserfahrungen in der Nachwendezeit und die Folgen eines ungehemmten Marktradikalismus.

Zum einen, erlebten in der Nachwendezeit viele, dass ihre Betriebe dicht machten, dass ihre bisherigen Leistungen nichts galten und ihre Erfahrungen nicht gefragt waren. Viele verdrängten damals die Demütigungen, verbargen sie zum Teil vor der Familie und vor sich selbst. 30 Jahre später kommen die verdrängten Traumata wieder hoch – nicht selten in zerstörerischer Form.

Zum anderen wirkte im Osten der Marktradikalismus in besonderer Härte. Niedrige Löhne galten als Standortvorteil. Tarifbindung und gewerkschaftliche Organisierung sind im Osten bis heute niedrig. Der neoliberale Zeitgeist erzog die Menschen zum Einsatz des Ellenbogens. Marktradikalismus und die Demütigungserfahrungen der Nachwendezeit schufen ein Klima, das heute den Rechten in die Hände spielt. Wer den Rechtsruck nachhaltig aufhalten will, muss genau da ansetzen.

Wer jedoch über den Marktradikalismus der vergangene Jahrzehnte nicht reden will, sollte sich über den Aufstieg der Rechtsradikalen nicht wundern. Und vor allem die Schuld nicht bei anderen suchen. Um den Rechtsruck nachhaltig aufzuhalten, brauchen wir eine sozial-ökonomische Wende. Zu solch einer Wende gehören der garantierte Schutz aller vor Armut, die Besserstellung der Mitte, Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, die Abkehr vom Primat des Konkurrenzdenkens und vom reinen Profitstreben. Stattdessen sollte gelten: Mensch und Natur vor Profiten.

Bisher blockiert die Mehrheit im Bundestag solch eine Wende. Genau jene Kräfte in Politik und Medien, die bisher gegen die notwendigen sozialen und ökonomischen Veränderungen gearbeitet haben, wälzen nun die Schuld am Rechtsruck nur zu gerne auf DIE LINKE ab. Ein für sie bequemer Schuld-Abwehr-Reflex, der ihnen ermöglicht, sich weiter vor dem notwendigen Kurswechsel zu drücken. Umso wichtiger ist es, dass wir als Linke uns für die notwendige sozial-ökonomische Wende stark machen – in Ost wie West.

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