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Wölfe auf Kirschmus
Helmut Rasch steht vor einem moralischen Dilemma
Wer am vergangenen Wahlabend die verbalen und nichtverbalen Äußerungen einer gewissen politischen Couleur über sich ergehen ließ, sah sich vor einem moralischen Dilemma: Rechtsradikale sind bekanntlich Menschen. Und da stellt sich fast unweigerlich die Frage, inwieweit ihre Gesundheit Schaden nimmt, wenn sie in Antizipation des Normalbürgernervenkostüms so ausdauernd wie hastig standardähnliches Nachwahlblabla von sich geben, während ihre Wolfsäuglein tollwütig irrlichtern.
Es ist ja nicht nur psychosomatisches Alltagswissen, dass das dauerhafte Herunterschlucken von Wut zu Magengeschwüren führen kann, die die Krebsgefahr erhöhen. Nun hat zudem »ÖkoTest« herausgefunden, dass das Fressen von Kreide weniger harmlos ist, als man dachte: Zehn von 16 getesteten Sorten enthielten einen Bestandteil, den die Europäische Chemikalienagentur 2012 als krebserregend eingestuft hat!
Während man also, um dem Großbildschirm zu entgehen, auf dem mobilen Endgerät herumwischte, spitzte sich jenes moralische Dilemma stetig zu. Sozusagen zwischen der »ÖkoTest«-Information, dass besagter Kreidebestandteil bei Tieren »allein durch Mundkontakt Tumore auslöste« - und jener im Erbauungsmedium »Bild« vor Jahresfrist geführten Debatte, ob es in Ordnung sei, der Ehefrau von Baschar al-Assads ihre schwere Erkrankung zu gönnen: Darf man sich also wünschen, dass jenen Kreidefressern zustoße, wovor »ÖkoTest« warnt? Wenn einem selbst bei ihrem Anblick ein Magengeschwür droht?
Doch gerade, als man dieses Dilemma insofern gelöst zu haben meinte, als dass man sich bei in etwa gleicher Gefährdungslage nicht grämen müsse ob seiner makabren Gedanken, hatte man den einen Wisch zu viel getan. Und musste zur Kenntnis nehmen, dass der das Sprichwort stiftende Wolf aus dem Märchen mit den sieben Geißlein gar keine Kreide frisst, um seine Stimme mild zu färben - sondern eine Fruchtmusspezialität, die man seinerzeit als »Kirschkreide« bezeichnete.
Hierdurch zerstob die tröstliche Aufrechnung der Gesundheitsgefahren durch beziehungsweise für rechtsradikale Sprechblasenverbreiter zunächst zu einem großen, traurigen Nichts. Doch konnte, wer unerschrocken weiterwischte, über die Wolfsaugenmenschen immerhin etwas neues lernen: Die »Kreide« ihrer mutmaßlichen Wahl, heute über obskure Webseiten vertrieben, stammt nämlich, man ahnt es, aus Ostpreußen. Würde nun »ÖkoTest« sich auch dieser Substanz einmal gründlich annehmen, hielte man fast jede Wette, dass sich darin Spuren von »Panzerschokolade« fänden. Also Reste aus dem Drogenschrank der dortigen »Wolfsschanze«: Die Wölfe von heute fressen keine Kreide mehr - sondern sind auf Crystal Meth.
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