Brauchen wir für jede Diagnose eine Zweitmeinung?

Wie Ärzte die Situation beurteilen

  • Lesedauer: 3 Min.

Ein organisiertes Zweitmeinungsverfahren hat der Gesetzgeber in Deutschland erst 2019 gestartet, und es gilt bisher nur für zwei geplante Operationen: Eingriffe an den Gaumen- und/oder Rachenmandeln sowie Gebärmutterentfernungen. In der Urologie gibt es auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) dagegen seit mehr als zehn Jahren ein online-basiertes kostenfreies Zweitmeinungsverfahren für Patienten mit Hodentumoren.

Das Zweitmeinungsprojekt Hodentumor (www.hodentumor.zweitmeinung-online.de) startete vor gut einem Jahrzehnt. »Wir wussten, dass die Versorgungsqualität bei Hodentumoren, die eine seltene Tumorentität darstellen, regional sehr unterschiedlich ist. Die Erfahrung mit fortgeschrittenen Tumoren ist häufig limitiert. Andererseits war es politisch nicht gewollt, diese Tumoren an wenigen Zentren zu behandeln. Heute wissen wir, dass mit unserem zentralen Netzwerk ein guter Kompromiss gelungen ist«, sagt Prof. Dr. Mark Schrader, Mitinitiator und Leiter des Projektes.

Die Ergebnisse nach zehn Jahren Laufzeit und über 6000 Zweitmeinungen zeigen, dass jede fünfte Zweitmeinung die Therapieplanung verbessert. Im Jahre 2018 wurde jeder dritte Patient mit neu diagnostizierten Hodentumoren im Nationalen Netzwerk vorgestellt. »Das Portal hat sich auch in anderen Fachdisziplinen durchgesetzt. So bietet die Charité in Berlin ein Zweitmeinungsportal Ovarialkarzinom mit unserer Softwareplattform an«, so Prof. Schrader. In der Urologie ist eine Ausweitung auf andere Erkrankungen in die Wege geleitet.

Vor allem bei Krebstherapien ist laut einer Bertelsmann-Studie eine zweite Instanz gefragt. Das medizinische Wissen zu Krebs wächst immer schneller, verdoppelt sich nach Expertenmeinung derzeit alle zwei Jahre. Diagnostik und Therapie werden zunehmend komplexer, und rund ein Drittel aller Krebspatienten wünscht sich eine ärztliche Zweitmeinung, um sich abzusichern. »Es gibt natürlich bei jeder Tumorentität, bei jeder Entscheidung für eine Therapiefestlegung einen Beratungsbedarf. Ob man diese Beratung nun Zweitmeinung nennt oder einfach eine unterstützende Beratung, sei dahingestellt«, sagt Prof. Schrader.

In der Sache geht es um eine Optimierung der Therapie für möglichst alle Betroffenen. Das Potenzial von Vernetzung und Kooperation zeigt aktuell auch das »Nationale Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs«. Das Projekt erprobt mit Förderung der Deutschen Krebshilfe die zentrale umfassende molekulare Diagnostik und Therapieplanung an onkologischen Spitzenzentren in Kombination mit einer wohnortnahen Behandlung und gilt als Blaupause zentraler Molekulardiagnostik für andere Tumorentitäten. Die Deutsche Krebsgesellschaft setzt ebenfalls auf die online-basierte Unterstützung, allerdings ist diese Zweitmeinung kostenpflichtig und wird nur von einem Teil der Krankenkassen übernommen.

»Ideal für die Patienten ist eine kostenfreie kompetente Erstmeinung, die in einem multidisziplinären Tumorboard gemeinsam mit verschiedenen Experten für den jeweiligen Tumor getroffen wurde. Dies ist in der Versorgungsrealität in einigen Fällen allerdings nicht umsetzbar. Für diese Fälle halte ich eine Zweitmeinung, unabhängig von der Tumorentität, für hilfreich, wenn sie von hochkompetenten Experten abgegeben wird. Denn eine Zweitmeinung ist natürlicherweise im Vergleich zur Erstmeinung nicht immer ›die bessere Meinung‹«, so Prof. Schrader. Tatsächlich gibt es keine verbindlichen Standards für die verschiedenen, auch kommerziellen Angebote ärztlicher Zweitmeinung.

Ganz besonders wichtig ist für Prof. Schrader eine zweite Expertise bei seltenen Tumoren, bei denen die einzelnen Ärzte in der Regel über sehr, sehr wenig Erfahrung verfügen. »Das betrifft in der Urologie den seltenen Peniskrebs. Für diese Entität werden wir in Kürze ein weiteres Zweitmeinungsverfahren starten«, sagt DGU-Präsident Prof. Dr. Oliver W. Hakenberg, Direktor der Klinik und Poliklinik für Urologie am Uniklinikum Rostock. DGU/nd

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