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Herzhaftes zum Vollmond
An einem Vormittag finde ich mal etwas Zeit, um mir Shanghais Zentrum näher anzuschauen. Ich fahre also zum Platz des Volkes und laufe von dort aus die Fußgängerzone auf der Nanjing Road hinunter. Zwei Typen von Einheimischen fallen mir sofort auf. Von der einen fragt mich gefühlt alle 20 Sekunden ein neuer Vertreter, ob ich nicht in einem der zahllosen Geschäfte shoppen wolle: »Eine schöne Tasche, mein Herr?« - »Hier gibt’s tolle Uhren.« - »Wollen Sie vielleicht eine Massage im Spa?« Es braucht schon viel Selbstdisziplin, auch beim Zehnten noch höflich »Nein, danke!« zu sagen.
Die Menschen des zweiten Typs wollen zum Glück nichts von mir - aber alle offenbar das Gleiche. Teilweise mehr als 100 Meter lang stehen sie an kleinen Bäckereien an. Dass die Menschen hier offenbar keine Probleme damit haben, lange zu warten, habe ich schon mehrfach mitbekommen: An Flughäfen und Bahnhöfen stellen sie sich lange vor der Öffnung der Einstiegstore in Reih’ und Glied auf und harren geduldig aus, obwohl sie sich auch noch entspannt auf Bänken ausruhen könnten.
Aber die Schlangen auf der Nanjing Road sind noch mal länger, und es geht nur sehr schleppend voran. Die Leute brauchen Stunden, bis sie dran sind. Dann wird bestellt, und sie bekommen rosa Pakete ausgehändigt. Der Nächste bitte! Und noch ein Paket. Von diesen Bäckereien gibt es auf 100 Metern mindestens fünf Stück, sodass die Fußgängerzone eher zur Fußsteherzone wird.
Später frage ich im WM-Pressezentrum Huang Jingchun eine gut Englisch sprechende Freiwillige aus Shanghai, was in den Paketen drin sei. Sie muss nicht lange überlegen: »Das sind mit Sicherheit Mondkuchen. Am Freitag ist Mondfest in China. Viele Leute fahren nach Hause und kommen mit der Familie zusammen. Dann schauen sie sich den Vollmond an und essen Mondkuchen.«
Die Fokussierung der Chinesen auf den Lunarkalender findet in dieser Woche also einen ihrer Höhepunkte. Die meisten Menschen haben frei; auch Huang ist froh darüber, dass das letzte Platzierungsspiel der WM in Shanghai schon am Donnerstagabend angepfiffen wurde - und sie rechtzeitig zur Familie kommt. »Da fällt mir ein, meine Mitbewohnerin im Wohnheim schafft es nicht nach Hause. Sie arbeitet im Hotel und bekommt nicht frei. Ich werde ihr ein paar Mondkuchen kaufen. Danke, dass Sie mich daran erinnert haben«, sagt Huang. Tatsächlich werden diese Kuchen nicht unbedingt für den eigenen Verzehr gekauft, sondern als nette Geste für Familie, Freunde oder Kollegen. »Sie sind ein billiges Geschenk - und eins, das immer passt.«
Meine Neugierde ist geweckt. Am nächsten Morgen gehe ich ins Lotus-Einkaufzentrum und besorge mir am Backstand zwei verschiedene Sorten Mondkuchen. Wahrscheinlich sollte man das nicht hier tun, denn eine Schlange gibt es hier nicht. Trotzdem: Die kinderfaustgroßen Stücke sehen ganz lecker aus.
Im Hotel beiße ich vorsichtig hinein. Der blättrige Teig außen ist wunderschön mit Ornamenten und Schriftzeichen verziert - aber auch irgendwie geschmacklos. Beim zweiten Biss schmecke ich die Füllung: Schweinefleischpastete. Auf Herzhaftes war ich nicht eingestellt. Zudem sind die kleinen Kuchen nicht gerade leicht. Der dritte Bissen fällt mir schon schwer. Ich schaff es nicht, die Supermarktkuchen aufzuessen. Sollte ich irgendwann noch mal im Herbst nach China kommen, werde ich mich in die Schlange stellen.
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