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Opfer als Täter
Göttinger Grünen-Mitglied wurde von einem Polizisten niedergeschlagen. Vor Gericht stand nun aber der Betroffene
Ein 28-Jähriger musste sich am Donnerstag vor dem Göttinger Amtsgericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft warf dem Grünen-Mitglied Verleumdung, falsche Verdächtigung, Widerstand und tätlichen Angriff auf einen Polizisten vor.
Der verhandelte Vorfall liegt mehr als drei Jahre zurück. Im Mai 2016 protestierten rund 1000 Menschen vor dem Göttinger Bahnhof gegen eine zeitgleiche Kundgebung des rechtsextremen »Freundeskreises Thüringen/Niedersachsen«. Um die Gegendemonstranten fernzuhalten, hatte die mit mehreren Hundertschaften aufmarschierte Polizei Absperrgitter auf den Platz gezogen.
Als einige Nazigegener versuchten, diese zu überwinden und die Gitter beiseite schoben, schritten die Beamten ein. Pfefferspray kam großflächig zum Einsatz, auch Gabriele Andretta (SPD), Präsidentin des niedersächsischen Landtags, wurde davon getroffen und verletzt. Sie hatte schlichtend eingreifen wollen. Der Mann, der jetzt vor Gericht stand, wurde durch den Faustschlag eines Beamten niedergestreckt und verletzt. Er sei »gezielt bewusstlos geschlagen« worden, schrieben die Göttinger Grünen in einer Erklärung anlässlich des Verhandlungstermins vor dem Amtsgericht. Dort schilderten der Betroffene und Augenzeugen den Vorfall übereinstimmend.
Der damals 25-Jährige zeigte den Beamten anschließend wegen Körperverletzung im Amt an. Die Ermittlungen wurden aber bald eingestellt und stattdessen ein Verfahren gegen den Anzeigenerstatter eröffnet: Nicht der Polizist, sondern der Demonstrant sei der Gewalttäter gewesen. Er soll, so die nun verhandelte Anklage, den Polizisten gegen den Helm geschlagen haben. Bei seiner eigenen Anzeige habe er wahrheitswidrig verschwiegen, dass der Schlag des Beamten nur eine Abwehrreaktion gewesen sei. Der Beschuldigte habe zuerst zugeschlagen.
Im Prozess war der Polizist als Zeuge geladen. Er sagte aus, ein Mann habe während der damaligen Demo mit der Hand von unten gegen seinen Helm geschlagen, so dass das Visier verrutschte. Er habe den Schlag erwidert. Der Angreifer sei hingefallen, habe aber von allein wieder aufstehen können. Ein in der Verhandlung gezeigtes Polizeivideo brachte keine Klärung: Der Clip zeigt das verrutschende Visier und den Beschuldigten, ein Schlag von ihm ist aber nicht zu erkennen. Und sei somit, so der Richter, nicht nachzuweisen. Er stellte das Verfahren deshalb ein.
Pippa Schneider vom Kreisvorstand der Grünen beklagte nach der Entscheidung, bei Anti-Nazi-Kundgebungen komme es immer wieder »zu gewalttätigem Vorgehen durch die Polizei«. Erstatte ein Opfer Anzeige, komme sehr häufig eine Gegenanzeige. Meist würde dem Anzeigenerstatter dann Widerstand gegen Polizisten vorgeworfen. Opfer würden so systematisch zu Tätern gemacht. »Obwohl ja ein Polizeivideo existiert, das den gezielten Schlag des Beamten zeigt, waren wir von der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Polizisten nicht überrascht«, sagte Schneider. Dass dem von dem Übergriff Betroffenen auch noch Verleumdung und falsche Verdächtigung zur Last gelegt wurde, sei »eine Repression gegen nötiges antifaschistisches Engagement«.
Im übrigen hatte auch die Verletzung von Landtagspräsidentin Andretta durch Pfefferspray keine strafrechtlichen Folgen für die Polizei. Die Staatsanwaltschaft Göttingen stellte ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung im Amt ein. Der Beamte habe nicht auf Andretta gezielt, sie sei vielmehr versehentlich getroffen worden, hieß es zur Begründung.
Anfang vergangener Woche waren Ergebnisse der bislang größten Untersuchung zu Polizeigewalt in Deutschland veröffentlicht worden. Die Studie unter Leitung des Kriminologen Tobias Singelnstein von der Ruhruniversität Bochum zeigt, dass unrechtmäßige Polizeigewalt deutlich häufiger vorkommt als bisher bekannt. Der Untersuchung zufolge gibt es jährlich mindestens 10.000 mutmaßlich rechtswidrige Übergriffe durch Polizeibeamte und damit fünfmal mehr als angezeigt werden. Von deutschen Staatsanwaltschaften werden pro Jahr dagegen lediglich Anzeigen wegen 2000 gegen Polizeibeamte wegen rechtswidriger bearbeitet. Weniger als zwei Prozent der Fälle kommen tatsächlich vor Gericht, weniger als ein Prozent endeten mit einer Verurteilung, so Singelnstein.
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