Was bedeutet das Kriterium »hirntot«?
Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Organspende ist von der entscheidenden Voraussetzung »Hirntod« die Rede.
Die Diagnose »Hirntod« ist bindende Voraussetzung, dass Patienten Organe entnommen werden dürfen. Wer in seinem Organspendeausweis die Bereitschaft dokumentiert, etwa Herz, Lunge oder Nieren zu spenden, geht wie selbstverständlich davon aus, zum Zeitpunkt einer möglichen Organentnahme tot zu sein. Doch wann ist jemand tot?
Forscher, Mediziner und Theologen diskutieren seit Jahrzehnten über diese Frage - ohne Einigung in der Sache. Lebenswichtige Organe werden Menschen entnommen, die aus medizinischer Sicht als tot gelten, aber einen Körper mit traditionellen Lebenszeichen haben. Von daher ist die Gleichsetzung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls mit dem Tod eines Menschen in der Fachwelt umstritten.
»Natürlich leben die zur Organspende vorgesehenen Menschen noch. Sie würden ohne Intensivmedizin tatsächlich tot sein: kalt, starr, blassblau. All das sind sogenannte Hirntote nicht«, sagt Martin Stahnke, Anästhesist und Vorsitzender des Vereins »Kritische Aufklärung über Organspende« (KAO). Es stelle sich die Frage: Wie tot sind Hirntote, deren Organe entnommen werden? Ganz tot, halbtot, scheintot, sterbend oder noch lebend? »Der wahre Tod zeigt sich von selbst und lässt sich nicht von uns definieren«, heißt es im Verein KAO.
Ein einhelliges Votum zur Hirntod-Feststellung fand 2015 auch der Deutsche Ethikrat nicht. Die Mehrheit des Gremiums ist der Auffassung, »dass der Hirntod ein sicheres Todeszeichen ist und die Spende lebenswichtiger Organe nur zulässig sein darf, wenn der Tod des möglichen Organspenders festgestellt ist (Dead-Donor-Rule)«. Aber: »Eine Minderheit hält den Hirntod nicht für den Tod des Menschen und weist dem Hirntod lediglich die Rolle eines notwendigen Entnahmekriteriums zu.«
Die Kriterien des Hirntodes wurden 1968 von einer in Harvard tagenden Ethik-Kommission (Harvard-Commission) festgelegt. Diese schon damals umstrittene neurologische Definition des Todeszeitpunktes war nötig geworden, weil es Chirurgen geschafft hatten, Organe zu verpflanzen. Seither sind Hirntote als Tote anzusehen, denen Organe entnommen werden können, auch wenn es eine Vielzahl unterschiedlicher diagnostischer Hirntodkriterien gibt.
Die Bezeichnung »Hirntod« ist laut Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, überholt, weil sie zu Missverständnissen geführt habe. Korrekter sei es, von »irreversiblem Hirnfunktionsausfall« zu sprechen - eine sprachliche Klarstellung, die aber am Verfahren nichts ändert, betont Montgomery: »Die Hirnleistung macht uns zu Menschen. Hirntoten ist eine Rückkehr ins Leben nicht mehr möglich.«
Zusammengestellt von der nd-ratgeberredaktion
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