- Berlin
- »Clan-Kriminalität« in Berlin
Generalverdacht an der Sonnenallee
LINKE kritisiert das Vorgehen gegen »Clan-Kriminalität« als rassistisch und stigmatisierend
»Immer wenn wir glauben, eine stigmatisierende Debatte hinter uns zu haben, kommt schon die nächste auf uns zu«, sagt Mehdi Chahrour. Der Anfang 30-jährige Jurist, der in Neukölln geboren und aufgewachsen ist, ist Vorsitzender des örtlichen Vereins »Muslime aller Herkunft deutscher Identität« (M.A.H.D.I.). Gemeinsam mit der Neuköllner Linkspartei hat der Verein am Dienstagabend eine Podiumsdiskussion mit dem Titel »Stigma, Show, Schikane: Neukölln und die Clan-Debatte« organisiert. Der Festsaal des Gemeinschaftshauses Refugio ist an diesem Abend brechend voll. Die aktuelle Debatte um kriminelle »türkisch-arabischstämmige« Großfamilien bewegt viele Menschen, nicht nur in Neukölln.
Erst vor wenigen Tagen hat das Bundeskriminalamt (BKA) ein bundesweites Lagebild zur Organisierten Kriminalität (OK) vorgestellt. Die dabei erhobenen Zahlen von Ermittlungsverfahren (535) zeigen, dass nicht wenige davon (59) gegen Verdächtige in Berlin laufen. Die Zahl der Verfahren wird nur von Flächenländern wie Bayern (78) und Nordrhein-Westfalen (107) übertroffen. Neu an dem Bericht ist ein Kapitel, das ein »Lagebild zur Clankriminalität« abgibt, die sich laut BKA durch »verwandtschaftliche Beziehungen«, eine »gemeinsame ethnische Herkunft« und »ein hohes Maß an Abschottung der Täter« definiere. Das Berliner LKA kündigte daraufhin ein eigenes OK-Lagebild an und Innensenator Andreas Geisel (SPD) kündigte Anfang der Woche für den 24. Oktober einen »Clan-Gipfel« an.
Die Debatte hat in den vergangenen Monaten enorm an Fahrt aufgenommen - auch durch politisches und behördliches Handeln. 22 Razzien hat die Polizei in den vergangenen sechs Monaten auf den großen Einkaufsstraßen im nördlichen Neukölln, vor allem im Bereich der Sonnenallee und der Karl-Marx-Straße durchgeführt. Mit teils mehr als 350 Einsatzkräften riegelte sie dafür großräumig Straßenzüge ab, drang mit gezogenen Waffen in Cafés ein und kontrollierte Gäste und Personen auf der Straße. Vornehmlich davon betroffen sind Shisha-Bars. Manche trifft es wiederholt, viele werden geschlossen und versiegelt, wie ein Barbesitzer aus dem Publikum schildert.
Ein konkreter Tatverdacht im Kontext von »Clan-Kriminalität« lag laut einer kleinen Anfrage der LINKE-Abgeordneten Niklas Schrader und Anne Helm aber in keinem einzigen Fall vor. Häufiger Hintergrund der Einsätze sind Amtshilfeersuchen, bei denen das zuständige Ordnungsamt für ordnungsrechtliche Überprüfungen um Polizeischutz bittet.
Für Mehdi Chahrour ist das nicht nachvollziehbar. Ob man wirklich glaube, dass sich Schwerstkriminelle in Neuköllner Spätkäufen verstecken? Das martialische Auftreten der Polizei sorge in Neukölln zwar für Angst und Schrecken, aber »nicht bei denen, die es erreichen soll«, so Chahrour. Auch für die Strafrechtlerin Ria Halbritter ist der Einsatz von Hunderten Polizisten bei einem einfachen ordnungspolitischen Einsatz kaum zu rechtfertigen. Bei der Bekämpfung der sogenannten Clan-Kriminalität gebe es jedoch keine gesetzlichen Grundlagen, sondern nur politische Entscheidungen, so Halbritter. Warum die Polizei derartige Razzien eigentlich nicht im Zusammenhang mit der seit Jahren andauernden rechten Terrorserie in Neukölln veranstaltet, ist für die Anwesenden dementsprechend unverständlich.
Für Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der LINKEN, ist schon der Begriff Clankriminalität »irreführend und diskriminierend«. Der Begriff lege nahe, dass die Zugehörigkeit zu einer Familie oder einer Ethnie die Ursache für kriminelle Handlungen sei. Dadurch würden muslimische Bürger »stigmatisiert und kriminalisiert«. »Niemand bestreitet das Vorhandensein von Organisierter Kriminalität«, sagt Jelpke. Sie bezweifelt jedoch, dass die Einsätze in Neukölln das geeignete Mittel dagegen seien. Die Razzien sollten den Eindruck von »Tatendrang« vermitteln, würden aber tatsächlich nur dazu beitragen, die »rassistische Karte« im Sinne der AfD zu spielen, so Jelpke.
Unterstützung erhält Jelpke von ihre Parteikollegin Jorinde Schulz aus dem Bezirksvorstand der LINKEN. Den Vorwurf, sie würden sich damit vor Kriminelle stellen und Gewalt verharmlosen, lässt sie nicht gelten. »Wir stellen uns vor die Menschen, die im Zuge einer einseitigen Betrachtung möglicherweise diskriminiert werden«, sagt Schulz.
Laut Mehdi Chahrour würden sich einige Mitglieder von berüchtigten arabischen Großfamilien durch die Stigmatisierung gezwungen sehen, ihren Namen zu ändern, weil sie auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt keine Chance mehr hätten. Manchmal, sagt Mehdi Chahrour, frage er sich angesichts des öffentlichen Diskurses: »Wann kommt der ›Clan-Junge‹ in mir zum Vorschein, wann überfalle ich Leute, wann eröffne ich meine erste Shisha-Bar?« Es ist lustig gemeint, aber die Bitterkeit in seiner Stimme ist nicht zu überhören.
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