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Rechtsunsicherheit als Strategie
Rechtsanwalt Marcel Keienborg über den Rückgang des Kirchenasyls
Nur noch in zwei Prozent der Kirchenasylfälle habe das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Selbsteintritt ausgeübt, hieß es am Montag unter Berufung auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpe (LINKE). Im letzten Jahr habe die Quote bei 12 Prozent gelegen. Zuvor habe die »Erfolgsquote« sogar bei 80 Prozent gelegen. Das BAMF weigere sich also in zunehmendem Maße, humanitäre Härten anzuerkennen.
Die Kritik hat sicher einen Punkt, aber sie vermengt verschiedene Aspekte der spezifischen Rolle des Kirchenasyls im Dublin-Verfahren und geht deswegen am Kern des Problems vorbei. Der Erfolg des Kirchenasyls hängt nicht notwendigerweise davon ab, dass das BAMF die Einschätzung einer Kirchengemeinde, dass in einem konkreten Fall besondere humanitäre Härten vorliegen, teilt. Diesbezüglich kam es immer schon zu Meinungsverschiedenheiten zwischen BAMF und Gemeinden. Der eigentliche Clou beim Kirchenasyl in Dublin-Fällen ist jedoch ein anderer: Die sogenannte Überstellungsfrist, geregelt in Art. 29 der Dublin III-Verordnung. Diese besagt vereinfacht ausgedrückt, dass eine Abschiebung im Dublin-Verfahren innerhalb von sechs Monaten, nachdem ein anderer Staat sich zur Übernahme der betroffenen Person bereit erklärt hat, durchgeführt werden muss. Gelingt es nicht, diese Frist einzuhalten, geht die Zuständigkeit auf den Staat über, in dem die Person sich gerade aufhält, und eine Abschiebung ist bis auf Weiteres nicht mehr möglich. Wenn eine Kirchengemeinde eine Person ins Kirchenasyl aufgenommen hat, musste sie also auch früher schon damit rechnen, dass das Bundesamt nicht den in Art. 17 der Dublin III-Verordnung geregelten sogenannten Selbsteintritt ausüben würde. Als Selbsteintritt wird die Möglichkeit bezeichnet, dass sich ein Staat freiwillig für ein bestimmtes Asylverfahren für zuständig erklärt. Gerade darauf konnten die Gemeinden sich jedoch auch schon früher nicht verlassen; dies war aber regelmäßig zu verschmerzen, wenn man absehen konnte, dass sich das Problem wenige Wochen bis Monate später durch den Ablauf der Überstellungsfrist lösen lassen würde.
Mit der Absenkung der Quote beim Selbsteintritt ging jedoch ein weiterer Versuch einer Verschärfung einher: Wenn das BAMF nach Prüfung eines Falles meint, dass kein Härtefall vorliege, also kein Selbsteintritt ausgeübt würde, so wird die*der Betroffene aufgefordert, das Kirchenasyl binnen drei Tagen zu verlassen. Wenn sie*er dieser Aufforderung nicht nachkommt, so geht das BAMF nach einem Beschluss der Innenministerkonferenz (IMK) aus dem Juni 2018 grundsätzlich davon aus, dass die betroffene Person »flüchtig« sei. Das bedeutet, dass die Überstellungsfrist von sechs auf 18 Monate verlängert werden kann, was für die Betroffenen wie auch für die Gemeinden eine enorme Belastung darstellt, da die Betroffenen bis zu eineinhalb Jahren im Kirchenasyl verbleiben müssen.
Alleine die Ankündigung löste bei einigen Gemeinden Verunsicherung aus, die dann auch tatsächlich zu einer Minderung der Kirchenasyle führte. So wurde etwa im »Domradio« des Erzbistums Köln vor einer verschärften Gesetzeslage gewarnt. Dies ist jedoch falsch: Ein Beschluss der IMK und eine verschärfte Verwaltungspraxis sind eben noch keine verschärfte Gesetzeslage, sondern sie müssen sich vielmehr selbst an geltenden Rechtsnormen messen lassen. Und da kommt eine deutliche Mehrheit der Verwaltungsgerichte zu dem Schluss, dass diese neue Praxis unzulässig ist. Denn wenn die Anschrift der Betroffenen im Kirchenasyl den zuständigen Behörden sofort mitgeteilt wird (»offenes Kirchenasyl«), so ist die Abschiebung trotz Kirchenasyls jederzeit rechtlich und tatsächlich möglich. Die Betroffenen sind also eben gerade nicht »flüchtig«.
In den allermeisten Fällen gelingt es also weiterhin, die Menschen deutlich vor Ablauf der vermeintlich verlängerten Frist aus dem Kirchenasyl zu entlassen, ohne sie der unmittelbaren Gefahr einer Abschiebung auszusetzen. Voraussetzung hierfür ist lediglich, dass nach Ablauf der ursprünglichen, sechsmonatigen Überstellungsfrist ein entsprechendes Rechtsmittel beim zuständigen Verwaltungsgericht anhängig gemacht wird. In diesem Sinne sind Kirchenasyle in Dublin-Verfahren immer noch erfolgversprechend. Es bedarf aber eben mutiger Gemeinden, die sich nicht einschüchtern lassen.
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