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Gysis unerwünschte Rede
Einstige Bürgerrechtler empörten sich darüber, dass Gregor Gysi in Leipzig als Redner zum 30. Jahrestag der großen Wende-Demo angekündigt war. »nd« dokumentiert seine Rede.
Die Aufregung war groß in den letzten Wochen, weil der LINKE-Politiker Gregor Gysi in Leipzig als Redner am 9. Oktober, dem 30. Jahrestag der großen Wende-Demo, angekündigt war. Einstige Bürgerrechtler empörten sich darüber, dass ausgerechnet jemand, der aus der SED kommt, auf Einladung der Philharmonie Leipzig die Wende würdigen sollte – auf einer von vielen Veranstaltungen zum Jubiläum in der Messestadt. Die Philharmonie und die gastgebende Peterskirche blieben jedoch bei ihrer Einladung. Wir dokumentieren die Gysi-Rede.
Sehr geehrter Herr Koehler, sehr geehrter Herr Engelhardt, sehr geehrter Herr Richter,
liebe Gäste,
zunächst bedanke ich mich bei der Philharmonie Leipzig für Ihre Einladung. Ich weiß, dass es auch Unwillen dagegen gegeben hat. Ich verstehe, dass Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler glauben, dass eine Rede von mir nicht so recht zu dem Tag passen will. Ich bin ihnen für ihr Engagement in der DDR dankbar. Auf der anderen Seite verstehe ich aber nicht, weshalb zu einem besonderen historischen Ereignis nur die Vertreterinnen und Vertreter einer bestimmten Gruppe Stellung nehmen sollen und andere nicht. Ich denke, die Demonstrierenden vom 9. Oktober 1989 setzten sich auch gegen jede Zensur ein und nicht für eine erneute Beschränkung des Rederechts für bestimmte Personen.
Dieser 9. Oktober 1989 ist für viele ein Tag der Freude, des Gedenkens, des Nachdenkens und der Besinnung. Friedrich Schorlemmer sagt, dass sich in seinen Augen an diesem 9. Oktober auch Weltgeschichte entschied. Ich denke, er hat Recht. Die Menschen, die heute vor 30 Jahren den Mut besaßen und auf dem Leipziger Ring zur bis dahin größten unangemeldeten Demonstration in der DDR zusammenkamen, haben Geschichte geschrieben. An diesem Tag ging es noch nicht um die deutsche Einheit, aber es war klar, dass die Verhältnisse in der DDR nicht mehr so weiter bestehen werden, wie in den 40 Jahren zuvor, und dass dies Auswirkungen auf die Verhältnisse in Europa haben wird. Wenn man sich diese Dimension vor Augen führt, wird einem bewusst, welche Leistungen viele Ostdeutsche vor 30 Jahren vollbrachten. Diese Leistungen müssen ebenso wie die Leistungen der Ostdeutschen in den Jahrzehnten zuvor und in den Jahrzehnten danach, endlich angemessen gewürdigt werden.
Der Grundstein für die Ereignisse vor 30 Jahren, die später dann auch zur deutschen Einheit führten, wurde mit den von Gorbatschow eingeleiteten Entwicklungen von Perestrojka und Glasnost gelegt. Es ist aber auch an die Rolle von Solidarnoscz in Polen, an die Flucht in bundesdeutsche Botschaften und an die Grenzöffnung in Ungarn als weitere Grundlagen zu denken.
Es ist interessant, auf die Unterschiede zwischen der Erhebung am 17. Juni 1953 zu der Erhebung der Bevölkerung im Jahre 1989 hinzuweisen. Natürlich waren die Medien der alten Bunderepublik und von Westberlin voll von den Ereignissen am 17. Juni 1953. Er wurde dort ein Feiertag. Aber merkwürdigerweise spielte diese Erhebung in den französischen, britischen und anderen westlichen Medien eine viel geringere Rolle. Mir ist klar geworden, dass das daran lag, dass man dort der deutschen Bevölkerung noch kein Selbstbestimmungsrecht nach der Nazi-Diktatur und dem 2. Weltkrieg zubilligte. Die einen hatten eben die westlichen Besatzungsmächte, und die anderen sollten sich damit abfinden, die sowjetische Besatzungsmacht zu haben. Ganz anders waren die Reaktionen im gesamten Westen 1956 beim Aufstand in Ungarn und 1968 beim Prager Frühling. 1989 hatte sich die Situation nun aber grundsätzlich verändert. 1953 fuhren die Panzer der Sowjetunion gegen die Streikenden und Demonstrierenden auf. 1968 in der Tschechoslowakei kamen noch die Panzer anderer Länder hinzu. Daran war 1989 nicht zu denken. Gorbatschow stand nicht gegen, sondern eher an der Seite der Demonstrierenden. Mithin hatten diese es nur noch mit der SED-Führung aufzunehmen. Sie hatten den Mut diesen Kampf zu versuchen und waren erfolgreich. Ich muss es ganz klar sagen, die Demonstrantinnen und Demonstranten in Plauen, in Leipzig, in Berlin und vielen anderen Städten haben erfolgreich für Freiheit und Demokratie in der DDR gekämpft. Nicht Helmut Kohl und seine Bundesregierung brachten die Freiheit in den Osten, sondern diese Demonstrantinnen und Demonstranten im Osten selbst. Und mein Anliegen ist es genauso wie das Anliegen der damaligen Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine falsche Geschichtsschreibung, ein Vergessen dieser Leistungen zu verhindern.
Lassen Sie mich nur kurz etwas zu mir sagen. In der DDR habe ich Dissidentinnen und Dissidenten verteidigt, im Auftrage von Rainer Eppelmann im Mai 1989 Strafanzeige wegen Wahlfälschung bei der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 beim Generalstaatsanwalt der DDR erstattet. Im September 1989 vertrat ich das Neue Forum, das vom Innenminister der DDR als staats- und verfassungsfeindlich nicht zugelassen wurde. Ich sprach im Deutschen Theater zu den Übergriffen der Polizei gegen Demonstrantinnen und Demonstranten, half bei der Beantragung der großen Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 und sprach dort. Übrigens äußerten sich damals nur Friedrich Schorlemmer und ich indirekt auch kritisch zur Staatssicherheit. Am 6. November forderte ich im Fernsehen der DDR ein umfassendes Reiserecht.
Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 gab es eine völlig neue Situation in der DDR. Den Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Demonstrationen, den Mitgliedern des Neuen Forums und anderer oppositioneller Parteien und Organisationen konnte in der DDR nichts mehr passieren. Sie brauchten mich als Rechtsanwalt nicht mehr. Dass ich mich dann um die SED kümmerte, lag daran, dass sich nun alles gegen sie richtete, schon zurecht, gelegentlich aber auch überzogen. Als ich Vorsitzender dieser Partei wurde, war ihre führende Rolle schon aus der Verfassung gestrichen. Mir und anderen ging es um die Überwindung jeglicher Form des Stalinismus in dieser Partei. Wenn man sich die Entwicklung von der SED bis zur heutigen Linken anschaut, kann man den Grad der Veränderung deutlich feststellen. Später vertraten meine Partei und ich die Interessen vieler Ostdeutscher, die sonst im Bundestag überhaupt nicht vertreten gewesen wären.
Die Bereitschaft der Menschen vor 30 Jahren, bis dahin Unerhörtes einfach zu tun, mit Massendemonstrationen, neuen Parteien und Organisationen das Machtsystem der SED in Frage zu stellen, ohne es gewaltsam beseitigen zu wollen, folgte einem urdemokratischen Impuls, der auch den heutigen Verhältnissen durchaus guttäte. Die Runden Tische zum Beispiel waren ein demokratisches Instrument, dessen wir uns wieder aktiv erinnern sollten bei der Lösung aktueller Probleme. Die Friedlichkeit hatte zwei Seiten: »Keine Gewalt« durch Demonstrantinnen und Demonstranten und der Verzicht darauf bei den Soldaten, bei der Polizei nicht gleich, aber später auch. Es ist eine beachtliche Leistung, dass während des Umbruchs kein einziger Schuss fiel von keinem der so genannten bewaffneten Organe der DDR. Beides ist zu würdigen, nicht Schwarz-Weiß, sondern das große Dazwischen bestimmt den Lauf der Geschichte.
Der Aufruf der 6 um Kurt Masur spielte dabei eine gewichtige Rolle und ich freue mich deshalb sehr, dass seine Tochter Carolin am heutigen Abend zu den Solistinnen gehört.
Wenn wir heute die Friedlichkeit des Prozesses hervorheben, gehört dazu die Akzeptanz, dass sich die Machtübergabe eben nicht auf einen Schlag, sondern Schritt für Schritt vollzog und letztlich mit der demokratischen Wahl am 18. März 1990 vollendet wurde.
Der Prozess des Machtwechsels geschah im Dialog und nicht mit rigoroseren Konsequenzen für die alten Machthaber. Manchen erscheint das inkonsequent, aber aus meiner Sicht zeigt sich gerade darin eine demokratische Kraft und Reife, die zugleich dafür sorgte, dass der Alltag für die Menschen weiter lief. Dazu passte auch, dass Bürgerrechtler Einzug in die Regierung von Hans Modrow fanden.
Dann kam es zur deutschen Einheit, die die errungene Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, ein deutlich besseres Waren- und Dienstleistungsangebot sowie die frei konvertierbare Währung für die Ostdeutschen sicherte. Man darf auch die folgenden Instandsetzungen vor allem von Stadtzentren, der Infrastruktur, von Denkmälern und Wohnungen nicht vergessen. In der DDR gab es aber andererseits in sozialer, leider nicht in politischer Hinsicht mehr Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung, Kunst und Kultur, keine Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Mieten, wenngleich viele Wohnungen auch in keinem besonders guten Zustand waren. Kündigungen von Arbeitsverhältnissen und Wohnungen oder gar Zwangsräumungen waren eine Rarität. Aber zum Kapitalismus passen bestimmte Dinge nicht. Trotzdem dürfen wir nie vergessen, was durch die Einheit zunächst gesichert und dann auch gewonnen wurde. Sie war und bleibt ein historisch wichtiges Ereignis, das die große Mehrheit unserer Bevölkerung begrüßte und begrüßt.
Die Art und Weise aber, wie sie vollzogen wurde und wird, hatte und hat Fehler.
Ein Stück Ost- und Westeuropa wurden vereinigt. Man hätte dies – so wie es Gorbatschow vorschlug – auch nutzen können, um weder Osteuropa noch Westeuropa zu bleiben. Man hätte neutral und zu dem wesentlichsten Vermittler weltweit bei Konflikten werden können. Egal, ob es um den Konflikt Israel – Palästina, Russland – Ukraine oder andere geht. Stattdessen hat man sich entschieden, nicht nur in der NATO zu bleiben, sondern unsere Soldatinnen und Soldaten weltweit zu entsenden. Die erste Rolle wäre vielen, auch mir, schon aus historischen Gründen deutlich sinnvoller erschienen. Sie scheint mir auch mehr den Wünschen der Demonstrantinnen und Demonstranten vom 9. Oktober 1989 zu entsprechen. Eine solche Rolle zu spielen, kann man übrigens auch heute noch als NATO-Mitglied anstreben.
Ein weiterer Fehler bestand darin, dass die Bundesregierung und der Bundestag nicht bereit waren, irgendetwas an der Symbolik ihres Landes wegen des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zu verändern. Weder beim Namen des Landes noch bei der Hymne noch bei der Fahne noch beim Emblem noch bei der Bezeichnung irgendeiner Bundesbehörde. Man war auch nicht bereit, entsprechend Art. 146 des Grundgesetzes dieses durch eine neue Verfassung, die in einem Volksentscheid hätte bestätigt werden müssen, für das vereinigte Deutschland zu ersetzen. Wenn man aber zwei Völker, auch wenn es zwei deutsche Völker sind, miteinander vereinigt und dem einen Volk sagt, dass es nicht wert ist, dass auch nur ein Komma an der Symbolik des anderen und dann vereinigten Landes verändert wird, löst man tiefe psychologische Folgen der Demütigung aus, die bis heute wirken.
Weiter weigerte sich die Bundesregierung, Besseres aus dem Osten, wie zum Beispiel die höhere Gleichstellung der Frauen, die Polikliniken, die Berufsausbildung mit Abitur für ganz Deutschland zu übernehmen. Das hätte das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt. Und die Westdeutschen hätten durch uns auch eine Steigerung ihrer Lebensqualität erfahren. Das aber haben sie nicht erlebt. Stattdessen wurde der Osten nur nach dem Bilde des Westens geformt, ohne die Kompetenzen und Erfahrungen der Ostdeutschen – gerade auch beim Umbruch – als Chance für das gesamte Land zu begreifen. Damit nahm man den demokratischen Selbstbefreiungsdrang großer Teile der DDR-Bevölkerung weder ernst noch erwies man ihm den verdienten Respekt. Es ist nach 30 Jahren nun höchste Zeit, dies zu korrigieren. Auch mit gleichen Löhnen in gleicher Arbeitszeit und gleichen Renten für die gleiche Lebensleistung in Ost und West. Außerdem muss es endlich gemäß Art. 36 des Grundgesetzes so viele Ostdeutsche in Führungspositionen geben, wie es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Der Bevölkerungsanteil liegt bei 17 Prozent, der bei den Führungskräften nur bei 1,7 Prozent.
Ich will nicht weiter darauf eingehen, dass auch die künstlerischen, wissenschaftlichen und anderen Eliten nicht vereinigt wurden, dass der Überschuss an westdeutschen Eliten viele Leitungsfunktionen im Osten übernahm, so dass auch ein Gefühl der Fremdbestimmung entstand, etwas, was wiederum dem Selbstbewusstsein der Demonstrierenden vom 9. Oktober 1989 zutiefst widerspricht.
Letztlich war es auch ein Fehler, die Treuhandanstalt so zu gestalten, dass die ostdeutsche Wirtschaft nur passgerecht gemacht wurde für die westdeutsche, anstatt eine eigenständige zuzulassen und zu entwickeln.
Die Demonstrantinnen und Demonstranten vom 9. Oktober 1989 und die anderen Demonstrierenden in dieser Zeit wollten das Gegenteil von dem, wofür heute diejenigen stehen, die neue Mauern errichten wollen, Hass gegen Andersdenkende verbreiten, nationalen Egoismus predigen. Deshalb haben diese nicht das geringste Recht, sich auf die Wende, auf den Selbstbefreiungsdrang der Menschen und schon gar nicht auf den damaligen friedlichen Charakter der gewaltigen Umwälzungen zu berufen.
Seit dem 9. Oktober 1989 habe auch ich einen Erkenntniszugewinn erfahren. Heute möchte ich den damaligen Demonstrierenden danken, dass sie den Mut hatten, dafür einzustehen, die Verhältnisse in der DDR gründlich in Richtung Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verändern.
Und nun freue ich mich mit Ihnen auf die für mich schönste Sinfonie, die es gibt, die 9. von Ludwig van Beethoven mit dem phantastischen Text von Friedrich Schiller, der im Geist der Freude über die errungene Freiheit steht.
Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elisium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng getheilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.
Heute würde ich allerdings sagen, dass es nicht nur um Brüder, sondern auch um Schwestern geht.
Danke!
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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