Türkei spielt Trümpfe aus

Die NATO gerät in einen internen Konflikt - USA geben Verbündeten zum Abschuss frei

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Montag endete die Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO in London. Zwar stand die Aggression der Türkei nicht auf der Tagesordnung der 266 Delegierten aus den 29 Mitgliedsländern sowie aus 12 assoziierten Staaten, aber das Thema ließ sich nicht ausblenden.

Statt Vorschläge zu unterbreiten, wie man die Aggressoren in Ankara stoppen kann, statt wenigstens eine Suspendierung der türkischen Mitgliedschaft anzuregen, warnte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg davor, den Bündnispartner zu isolieren. »Die Türkei ist wichtig für die NATO«, sagte der Norweger am Montag in London. Wichtiger als die Grundsätze und Regeln, die sich das Bündnis vor 70 Jahren setzte? Offenbar. Tiefer kann man die Krise, in der die NATO steckt, kaum beschreiben.

In der Vertragspräambel bekräftigen die Mitglieder »ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und Regierungen in Frieden zu leben«. Sie zeigen sich »entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten«. Laut Artikel 1 will die NATO auf Basis der UN-Charta jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt ist, auf friedlichem Wege so regeln, »dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden«. Grundsätzlich wollen sich die NATO-Staaten in ihren internationalen Beziehungen »jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung enthalten«, die mit den Zielen der UN nicht vereinbar sind.

Sicher, in den vergangenen sieben Jahrzehnten wurden diese Grundsätze immer wieder gebrochen. Mehrfach auch von der Türkei, die 1952 dem Bündnis beitrat. Aktuell führt das Land einen Angriffskrieg. Diesmal gegen Syrien und damit gegen einen kriegsgebeutelten, doch souveränen Nachbarn. Der US-Präsident hat dafür aus innenpolitischen Gründen den Weg frei gemacht, indem er »seine« Soldaten aus den Kurdengebieten im Norden Syriens abzog. So werden aus den einstigen Verbündeten insbesondere der YPG, die am Boden großen Anteil am Zurückdrängen des Islamischen Staates (IS) hatten, leichte Opfer für Ankaras Kriegsmaschine.

Kein Ruhiges Hinterland
Internationalisten protestieren vor Berliner Bundeswehrbüro - für ganze Woche Blockaden und Demonstrationen in Dutzenden weiteren Städten geplant

Mehr als laue Worte hat die NATO nicht übrig für diesen Verrat. Und das, obwohl der Wortbruch auch die östlichen NATO-Mitglieder berührt, die nun erschrocken miterleben, was US-Freundschafts- und Beistandsbekundungen letztlich Wert sind.

Stoltenberg erwartet von der Türkei, dass sie sich mit anderen Alliierten abstimme, um die Erfolge im Kampf gegen den IS nicht zu gefährden. Ihm ist wichtig, dass von den Kurden gefangene IS-Aktivisten nicht freikommen. Dass ein NATO-Land ein anderes Land überfällt, regt weder seinen Zorn noch seine diplomatische Kreativität an. Bereits in den vergangenen Tagen sprach Stoltenberg von »legitimen Sicherheitsinteressen« Ankaras. Er zähle darauf, dass die Türkei »zurückhaltend« operiere und das Vorgehen ihrer Truppen »verhältnismäßig und maßvoll« bleibe.

Das ermutigte türkische Politiker, den Beistand der Alliierten gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages zu fordern. Demgemäß ist ein bewaffneter Angriff gegen eine NATO-Nation zu werten wie ein Angriff gegen das Bündnis. Wenn das keine Verhöhnung internationalen Rechts ist?!

Auch wenn es zu diesem Beistand nicht kommen wird, die Türkei hat viele Trümpfe auf ihrer Seite. Da ist zunächst die strategische Lage zwischen Nahem Osten und Schwarzem Meer. Ohne die Türkei wäre die Operationsfähigkeit der USA im Mittelmeer- und im arabischen Raum extrem eingeschränkt. Das gilt gerade für den Aufmarsch gegen Iran sowie die Stabilisierungsversuche in Irak. Bei einem Rausschmiss Ankaras aus dem Bündnis wäre die nukleare Teilhabe der NATO, also das Versprechen einzelner Mitgliedsstaaten, US-Atomwaffen einzusetzen, obsolet. Zudem: Als muslimischer Staat gab die Türkei NATO-Missionen in Afghanistan oder Libyen immer wieder den Anschein, dass es sich dabei nicht um Strafaktionen des christlichen Abendlandes handelt.

Wenn nun NATO-Politiker - statt den verbündeten Aggressor zu stoppen - ausgerechnet die in Syrien stationierten russischen Truppen auffordern, eine Flugverbotszone über dem umkämpften syrisch-kurdischen Gebieten zu errichten, dann steckt dahinter schon eine gehörige Portion Frechheit. Und Blauäugigkeit. Denn sie verkennen, dass Moskau und Ankara froh sind, einstige ernste Spannungen in diesem Gebiet überwunden zu haben und durch mannigfache Interessen eng verbunden zu sein.

Nicht weniger unmoralisch ist allerdings die Haltung der deutschen Regierung, die sich vor nicht allzu langer Zeit so lobend über »ihre« kurdischen Heldinnen äußerte. Einige von ihnen ließ man mit Bundeswehrmaterial ausrüsten. Nun schaut man aus Berlin einfach zu, wie sie vom NATO-Partner Türkei umgebracht werden. Gleichfalls mit Waffen, die aus Deutschland stammen.

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