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Abgebaggert, aber unvergessen
Ferienresorts, Schiffe oder Straßen tragen in der Lausitz die Namen verschwundener Dörfer
Höchst ungewöhnliche kommunale Jubiläen begehen derzeit zahlreiche sächsische Bürger. Denn die Dörfer, derer sie hierbei gedenken, gibt es gar nicht. Genauer gesagt, es gibt sie nicht mehr. Sie büßten einst für den Energiehunger der Gesellschaft - so wie über 300 weitere Ortschaften zwischen Rhein und Neiße. Denn sie waren für die Erweiterung von Braunkohletagebauen oder den Anstau von Kühlwasserreservoirs für Kraftwerke abgebrochen beziehungsweise devastiert, also der Verwüstung überlassen worden. 100 000 Deutsche in Ost wie in West verloren so ihre Wurzeln.
Zu ihnen gehörte Merzdorf (obersorbisch Łućo) im Landkreis Görlitz, das vor 40 Jahren im Tagebau Bärwalde verschwand. Oder Wunscha (Wunšow) bei Weißwasser - 2020 ist es 35 Jahre her, dass die Gemeinde dem Tagebau Reichwalde geopfert wurde. Doch vergessen ist sie nicht: Schon seit 2012 versammeln sich frühere Einwohner zu Erinnerungstreffen, um neben Wunscha auch die ebenfalls abgebrochenen Ortsteile Schadendorf (Pakosnica) und Publick (Publik) zumindest gedanklich am Leben zu erhalten. Und erst Anfang Oktober schlüpften über 100 Interessierte in Gummistiefel, um ihrem einstigen Heimatort Quitzdorf (Kwetanecy) buchstäblich auf den Grund zu gehen: Wegen Reparaturarbeiten an der Staumauer war das Wasser in dem See abgelassen worden, der hier vor genau 50 Jahren anstelle des Ortes entstanden war.
Doch auch so überlebten viele der verschwundenen Dörfer wenigstens dem Namen nach. So erinnert an Merzdorf etwa ein nach DDR-Vorbild gestaltetes gelbes Ortseingangsschild an der ursprünglichen Ortslage. Und Quitzdorf lebte wieder auf, indem nicht nur der Stausee nach der Gemeinde heißt, die er einst verschluckte, sondern weil sich 1994 die beiden Dörfer Kollm (Chołm) und Sproitz (Sprjojcy) zu Quitzdorf am See zusammenschlossen. Auch viele der anderen rund 80 abgebrochenen Lausitzer Orte dienen heute als Namenspaten für neue Gewässer, Feriencamps, Fahrgastschiffe, Denkmale oder Landmarken.
Oft sind diese Namenswurzeln den Nachgeborenen gar nicht mehr bewusst, so wenn sie sich womöglich wundern, weshalb der spektakuläre Wohnhafen mit den schwimmenden Häusern am Geierswalder See bei Hoyerswerda »Scado« heißt. Denn auch Scado (Škodow) - 1410 erstmals urkundlich erwähnt - war eines jener Dörfer, dessen Überbaggerung durch den Tagebau Koschen für manchen der vor 55 Jahren umgesiedelten Bewohner Anlass zu schwermütigem Gedenken ist. 220 Menschen mussten die Heimat verlassen.
An Scado erinnern zudem eine Straße und eine kleine Gedenkstätte in Geierswalde sowie das Yacht- und Sportressort »Gut Scado« am Partwitzer See. Das künstlich aus einem Restloch des Tagebaus Scado geflutete Gewässer hält ebenfalls einen verschwundenen Ort lebendig: Groß Partwitz (Parcow). Auch hier trafen sich unlängst viele der einst 410 Einwohner, um dem Beginn der Devastierung von Groß Partwitz vor 50 Jahren zu gedenken. Mit Genugtuung registrierten sie, dass auf einer schmalen Halbinsel, die weit in den See ragt, noch immer einige originale Obstbäume ihres Dorfes Früchte tragen.
Heute gehören die früheren Ortslagen von Scado und Groß Partwitz im rekultivierten Lausitzer Seenland zur Gemeinde Elsterheide. Diese hat ihren Sitz in Klein Partwitz. Wer hier auf der Hauptstraße westwärts radelt, passiert am Ende einer historisierenden Kopfsteinpflasterallee eine Erinnerungsstätte an Groß Partwitz. Künstler Manfred Vollmert aus Seidewinkel bei Hoyerswerda gestaltete dafür 2001 mehrere Bronzetafeln mit Motiven aus dem Leben des Ortes.
In der Gemeinde Elsterheide, deren überlebende Ortsteile durch die gefluteten Tagebaue nun wie Phönix aus der Asche aufstiegen, um sich von Schmuddelnestern zu Feriendomizilen zu wandeln, denkt man vor allem nach vorn. Und bei allem Schmerz über nicht wiederkehrende Dörfer, Häuser und Gärten blicken die Menschen nicht zuerst im Groll zurück auf die Ära von Kohlenbergbau und -verstromung. Denn dies brachte auch Arbeit, Wohlstand und nun eben völlig neue Chancen in die Region, so dass sie auch die Segnungen der Neuzeit mit alten Bergmannssymbolen versehen: Hierzu gehört auch der soeben eröffnete Barbarakanal, der nach 16-jähriger Bauzeit den Partwitzer See schiffbar an den Geierswalder See andockt. Denn seinen Namen bezieht er von der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute.
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