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Eingeschränkt kritikfähig beim Tourismus
Christoph Sommer fordert eine nachhaltigere Tourismuspolitik für Berlin
Es ist ein Déjà-écouté. 2011 war es eine Podiumsdiskussion der Kreuzberger Grünen mit dem provokanten Titel »Hilfe, die Touris kommen!«. Kürzlich waren es Zweifel der LINKE-Abgeordneten Katalin Gennburg an der Sinnhaftigkeit des Stadtmarketings. Zwei etwas unterschiedlich gelagerte Anlässe, doch acht Jahre später, im Lichte einer fortgeschrittenen »overtourism-Debatte« sind die staatstragenden Abwehrreaktionen aus der Senatskanzlei und von visitBerlin nahezu dieselben: »Diese Äußerungen [...] zur Einschränkung von Tourismus schaden unserer Stadt. Sie zerstören unser Selbstverständnis als europäische Metropole«, verlautbarte Michael Müller auf Twitter. VisitBerlin-Chef Burkhard Kieker stellte im »Tagesspiegel« klar, dass eine Großstadt eben teilen müsse und die ganze Debatte darüber, wie viel Tourismus Berlin vertrage, »erstaunlich provinziell« sei.
Dieser Tenor erinnert stark an die Reflexe, mit denen Klaus Wowereit bereits 2011 die in Kreuzberg aufkommende Tourismuskritik marginalisierte. »Alle Versuche, in manchen Teilen der Stadt einen großen Konflikt herbeizureden«, gingen »an der Realität vorbei«, so Wowereit damals. Diese rhetorischen Manöver der Relativierung von Tourismuskritik müssen endlich hinterfragt werden. Sie untergraben das Vertrauen in die Gestaltungsfähigkeit der Tourismuspolitik, die sich ohnehin schon in Form einer teilprivaten Destinations-Marketing-Organisation (visitBerlin) verselbstständigt hat - und dergestalt institutionalisiert eben genau das priorisiert: Tourismus-Werbung in all ihren Facetten.
Zum anderen lenkt die Disqualifizierung von Tourismuskritik von den stadtprägenden Ursachen dieser Kritik ab, die dringend als Stadtentwicklungsherausforderungen anerkannt werden müssten. So läuft der 2018 vermeintlich eingeleitete Kurswechsel hin zu mehr Nachhaltigkeit derzeit Gefahr, ein Lippenbekenntnis zu bleiben. Und zwar weil die Rede von Nachhaltigkeit lediglich die Kritik am Tourismus adressiert, nicht jedoch deren Ursachen. Wo sind die tourismuspolitischen Antworten auf eine schleichende Gewerbemonostrukturierung auf Kosten der Nahversorgung und Gewerbevielfalt? Wie sehen die tourismuspolitischen Impulse für die Gestaltung zentraler öffentlicher Räume (zum Beispiel Marx-Engels-Forum, Checkpoint Charlie, Alexanderplatz) aus? Wird der lange geplante Hotelentwicklungsplan mehr als eine Potenzialanalyse für die Ansiedlung weiterer Hotels?
Die städtische Tourismuspolitik muss sich zu all diese Fragen konkret verhalten; es genügt nicht, auf den gewünschten Qualitätstourismus, blöde Bier-Bikes und eine nicht mitgewachsene Infrastruktur zu verweisen. Burkhard Kieker hat recht: Es ist zu einfach, Probleme einseitig beim Tourismus abzuladen. Weit fahrlässiger ist es jedoch, eine grundsätzliche Debatte über Stadt(tourismus)entwicklung im Jahr 2019 nach wie vor mit einer Disqualifizierung und Relativierung tourismuskritischer Stimmen ausbremsen zu wollen!
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