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- Proteste in Chile, Libanon, Frankreich
30 Pesos, die die Welt bedeuten
In mehreren Ländern gehen die Menschen zur Zeit auf die Straße - Mario Neumann zeigt mögliche Gemeinsamkeiten auf
In Chile war es eine Fahrpreiserhöhung für U-Bahntickets um 30 Pesos (umgerechnet vier Cent), in Libanon die angekündigte Einführung einer Steuer auf Whatsapp-Telefonate. Vergangenes Jahr in Frankreich begann die Gelbwesten-Bewegung mit einer angekündigten Steuer auf Kraftstoffe. Man kann also sagen, dass die Auslöser der zeitgenössischen Aufstandsbewegungen relativ belanglos und willkürlich sind, vergleicht man sie mit dem, was in der Folge jeweils auf den Tisch kommt. Sie haben eigentlich immer bloß eine symbolische Bedeutung und stehen für die permanente Erschwerung des täglichen Lebens, das für viele oft nur noch ein Überleben ist.
Davon zeugt nicht zuletzt eine der beliebtesten Parolen in Chile der vergangenen Woche: »Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre.« Oder, wie es an eine Bank gesprüht wurde: »Sie schulden uns ein Leben.« Die Banken, bei denen viele Bildungs-, Konsum- oder Immobilienschulden haben, sind in Chile der Inbegriff einer Ordnung, die alle zu verschuldeten Subjekten macht, zu Menschen, die dem System etwas schulden. Eine Schuld, die viele für Jahrzehnte an die Tilgung und damit an miese Jobs bindet.
Jetzt wird diese Schuld umgedreht. Nicht die normalen Menschen schulden dem Staat Gehorsam und den Banken Geld. Das normale Leben erhebt sich und fordert etwas ganz anderes, das niemand so wirklich kennt und das vielleicht noch nicht einmal einen Namen hat. Klar ist nur, dass es irgendwie um alles geht und dass es so wie bisher nicht weitergehen soll.
Das merkt man spätestens daran, dass Whatsapp-Steuern oder Bahnpreiserhöhungen längst zurückgenommen wurden, sich die Menge aber nicht damit und nicht einmal mit zusätzlich entlassenen Ministern oder angekündigten Reformen zufrieden gibt. Es geht einfach weiter. In Chile »für das Recht in Frieden zu leben«, wie es ein altes, neu gesungenes Lied besagt. Oder in Libanon, wo die Massenbewegung eine neue Gemeinsamkeit in der ansonsten religiös-politischen Fragmentierung der Gesellschaft stiftet - so sehr, dass die Aktivistin Joelle Boutros aus Beirut meint, dass der Bürgerkrieg erst jetzt wirklich ende – nicht zuletzt damit, dass dem power-sharing der verschiedenen politischen Führer im Staat ein »Alle heißt Alle« entgegengesetzt wurde: Alle müssen gehen. In Frankreich lehnte die Bewegung über Monate praktisch jede Form des Gesprächsangebots und der politischen Vereinnahmung ab.
Aber macht es überhaupt Sinn, gleichzeitig von Chile, Libanon und Frankreich zu sprechen? Sicher gibt es weder eine Bezugnahme auf ein gemeinsames Programm noch eine direkte Kausalität wie zum Beispiel im Arabischen Frühling, der in den meisten Ländern 2011 begann. Doch wenn man davon ausgeht, dass soziale Aufstände dieser Dimension nicht einfach voluntaristischer Natur sein können, sondern eine tiefe Verankerung in den alltäglichen Erfahrungen haben, und man darüber hinaus in Rechnung stellt, dass sie im weitesten Sinne führungslos und spontan sind, muss man die Frage nach ihrem Zusammenhang anders stellen. Es geht nicht um eine Führung oder Ideologie, aus der sich alles ableitet, sondern es geht um die Gemeinsamkeiten, die sich quasi automatisch ergeben. Trotz aller regionalen Unterschiede sind sie auf Erfahrungen des Lebens im globalen Kapitalismus gegründet - und auf die Suche nach Möglichkeiten von Widerstand und Alternativen. Diese Gemeinsamkeiten sind daher kein Zufall.
Da ist die Einheit des sozialen und politischen Charakters. Die Proteste gegen die soziale Situation sind von jeder gewerkschaftlichen und betrieblichen Begrenzung befreit. Sie artikulieren eine unmittelbare Erfahrung, nämlich die ganzheitliche Problematik aus Schulden, Löhnen, Mieten, Gesundheit, Bildung und vielem mehr. Darin sind sie mehr als bloße Interessenpolitik. Die Proteste richten sich darauf, wie die Menschen regiert werden. Die Regierung und der Staat stehen im Zentrum eines politischen Problems und sind nicht seine Lösung. Dem entspricht ein ganz anderes Verständnis des globalen Neoliberalismus, als es hierzulande vorherrscht: Der Staat hat sich nicht aus den politischen und ökonomischen Prozessen zurückgezogen und die Menschen einem Marktgeschehen überlassen. Er ist vielmehr zentraler Akteur einer untrennbaren Verflechtung von ökonomischer und politischer Macht, die sich auf die immer schamlosere Ausbeutung, Enteignung und Disziplinierung der Bevölkerungen richtet.
Deswegen ist die soziale Frage in allen Aufständen nicht nur eine der Umverteilung und der Interessenpolitik, sondern zuallererst der Demokratie. Und diese Demokratie wird nicht nur eingefordert, sondern als radikale Variante in den Aufständen erprobt. Wie auch schon in den vergangenen Jahren ist das Zusammenkommen auf der Straße, die symbolische Schaffung eines anderen politischen Subjekts der Demokratie, zentral. Forderungen und Programm werden nicht vorausgesetzt, sondern im Prozess entwickelt und erweitert. Migrantinnen wurden in Chile aufgenommen in die Proteste, syrische und palästinensische Lieder auf den Straßen in Libanon gesungen. Die Straße hat die veröffentlichte Meinung wiederlegt, die nur die Angst vor Fremden und Veränderung kennt. Unnötig zu erwähnen, dass all das undenkbar wäre ohne den starken Einfluss der feministischen Bewegungen.
Wir kennen das alles aus dem Jahr 2011: Der offene Charakter der Platzbesetzungen und ihre expansive Dynamik waren schon damals das Gegenteil der verknöcherten linken Antworten auf die Krise, deren Politiken so oft die Staatsbürgerschaft oder einen Arbeitsplatz voraussetzten. Und damals wie heute waren die Grenzen der Repräsentation und das Versagen jeder politischen Vermittlung (ob nun gewerkschaftlich, parteipolitisch oder medial) das zentrale Thema. Eine Demokratie der Straße, ohne Führer und jenseits aller Begrenzungen der parteipolitischen und gewerkschaftlichen Organisierung, fordert wieder einmal das politische System heraus - an tausenden Orten, unkoordiniert und doch global.
Von 2011 lässt sich sicherlich lernen, dass das nicht ausreicht und sich die Frage nach dem Morgen danach stellt: Welche politische Kraft kann die Macht der Menge, die sich in den Aufständen Bahn bricht, wirklich in eine politische Veränderung umsetzen, damit nicht Repression, Gefängnisse und autoritäre Regierungen das Resultat sind?
In Chile wird derzeit erneut die Forderung nach einem verfassungsgebenden Prozess laut. Vielleicht ein Anfang.
Mario Neumann ist politischer Aktivist aus Berlin und hat sich in den vergangenen Jahren viel mit den europäischen Krisen- und Demokratiebewegungen beschäftigt. Er arbeitet bei medico international in der Öffentlichkeitsarbeit.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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