Ohne Sanktionen kollabiert das Hartz-IV-System

Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge über die möglichen Folgen des Verfassungsgerichtsurteils für das bestehende Arbeitsmarktregime

  • Christoph Butterwegge
  • Lesedauer: 4 Min.

Es wurde gegen heftige Proteste vor allem in Ostdeutschland zum 1. Januar 2005 durchgesetzt. Und tatsächlich hat das im Volksmund »Hartz IV« genannte Gesetzespaket während seines fast 15-jährigen Bestehens einen sozialen Klimawandel bewirkt und die politische Kultur der Bundesrepublik dauerhaft beschädigt. Selbst wenn die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit nicht durch die anziehende Weltkonjunktur und Maßnahmen zur Bewältigung der Finanzkrise mit zwei Konjunkturprogrammen, einer Verlängerung des Kurzarbeitergeldes sowie Arbeitszeitkonten in den Betrieben, sondern durch Hartz IV gesunken sein sollte - die gleichzeitig steigende Armuts(risiko)quote, die soziale Polarisierung und die politische Rechtsentwicklung in Teilen der Bevölkerung wären ein zu hoher Preis dafür.

Trotz einer fast zehn Jahre währenden Konjunkturphase befinden sich weiterhin sechs Millionen Menschen, davon zwei Millionen Kinder, im Hartz-IV-Bezug. Sie wurden in den vergangenen Jahren immer mehr von der allgemeinen Einkommensentwicklung abgekoppelt. Sowohl absolut wie auch relativ hat sich der Abstand zwischen dem Regelbedarf (ohne Miet- und Heizkosten) und der Armutsgefährdungsschwelle, die laut einer EU-Konvention bei 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt, seit Einführung von Hartz IV erheblich vergrößert. Betrug er 2006 noch 401 Euro (absolut) und 53,8 Prozent (relativ), so stieg er bis 2018 auf 619 Euro bzw. 59,8 Prozent. Man kann also von einer zunehmenden Verarmung der Betroffenen sprechen.

Die pauschalierten Regelsätze, die inzwischen Regelbedarfe heißen, reichen nicht aus, um in Würde leben, sich gesund ernähren und ordentlich kleiden zu können. Verringert wurde das Schonvermögen: Langzeiterwerbslose mussten nunmehr selbst eine der Altersvorsorge dienende Kapitallebensversicherung und/oder eine selbst genutzte Immobilie veräußern, bevor sie Arbeitslosengeld II erhalten konnten. Für ihre Arbeitsaufnahme gilt eine verschärfte Zumutbarkeit: Sie müssen jeden Job annehmen, auch wenn er weder nach Tarif noch ortsüblich entlohnt wird. Auch entfiel der Berufs- und Qualifikationsschutz: Besteht das Jobcenter darauf, muss eine medizinisch-technische Assistentin im Getränkemarkt und ein Ingenieur als Pförtner arbeiten.

Um solche Willkür durchsetzen zu können, bedienen sich die Jobcenter harter Sanktionen. Bei der ersten Pflichtverletzung, die darin bestehen kann, dass man einen der eigenen Qualifikation nicht entsprechenden Job ablehnt, ein vielleicht bereits absolviertes Bewerbungstraining nicht antritt oder eine ungeeignet erscheinende Weiterbildung abbricht, wird der Regelbedarf um 30 Prozent gekürzt. Bei der zweiten Pflichtverletzung sind es um 60 Prozent, bei der dritten Pflichtverletzung droht gar eine Totalsanktionierung, bei der das Jobcenter die Mittel für den Lebensunterhalt streicht, aber auch die Miet- und Heizkosten nicht mehr übernimmt. Noch härter trifft es Jugendliche, Heranwachsende und junge Erwachsene unter 25 Jahren, die schon bei der zweiten Pflichtverletzung riskieren, ihre Wohnung zu verlieren.

Weil es die Sanktionen wegen Pflichtverletzungen für grundgesetzwidrig hielt, hat das Sozialgericht Gotha im Mai 2015 als höchste Instanz das Bundesverfassungsgericht angerufen. Aus formalen Gründen wies dieses den Vorlagebeschluss seiner Kollegen ein Jahr später zurück. Allerdings ließ das Sozialgericht der thüringischen Stadt nicht locker und stellte seinen modifizierten Antrag im August 2016 erneut. Auf diese Weise zwang man das höchste deutsche Gericht, sich mit der uneinheitlichen, höchst zweifelhaften Sanktionspraxis von Jobcentern auseinanderzusetzen.

Am 15. Januar 2019 beschäftigte sich der Erste Senat einen ganzen Tag lang mit der Materie, um die es bei der Entscheidung an diesem Dienstag geht. Bei der öffentlichen Anhörung machten die Bundesregierung, ihre Prozessbevollmächtigten und die Bundesagentur für Arbeit im Unterschied zu den geladenen Sozialverbänden und Gewerkschaften, die geschlossen auftraten, keine gute Figur. Sieht man davon ab, dass der Senatsvorsitzende Stephan Harbarth als damaliger CDU-Bundestagsabgeordneter noch im Juni 2018 gegen einen Antrag der Linksfraktion auf Abschaffung der Sanktionen gestimmt hatte, hinterließen die Richter einen aufgeschlossenen, sachkundigen und kritischen Gesamteindruck.

Mit seiner Entscheidung in der Sache hat sich Karlsruhe sehr viel Zeit gelassen, was nicht zuletzt ihrer enormen Tragweite geschuldet sein dürfte. Tatsächlich handelt es sich politisch um ein heißes Eisen, denn Hartz IV bildet das Herzstück des neoliberalen Wohlfahrtsstaates, und die Sanktionen bilden das Herzstück von Hartz IV. Schon ihre Androhung gleicht Daumenschrauben, die Hartz-IV-Betroffene gefügig machen sollen. Ohne die Sanktionen wäre Hartz IV daher ein zahnloser Tiger. Würden die Sanktionen verworfen, könnte das System insgesamt kollabieren. Mit den Sanktionen fielen nach Art eines Dominoeffekts womöglich auch die übrigen Bausteine des bestehenden Arbeitsmarktregimes.

Anzunehmen ist, dass der Senat die Sanktionen weder generell verwirft noch sie in Gänze bestätigt. Vielmehr erklärt das Gericht wahrscheinlich die Totalsanktionierung für verfassungswidrig und macht eventuell auch Bedenken gegenüber der langen Dauer von Sanktionen (drei Monate selbst bei nachgeholter Mitwirkung) sowie der härteren Bestrafung junger Menschen geltend, obwohl diese nicht Gegenstand des Verfahrens war. Möglicherweise verlangt es auch die Einfügung von Ermessens- und Härtefallregelungen ins Sozialgesetzbuch.

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