Hartz-IV-Sanktionen sind teilweise verfassungswidrig

Kürzungen von mehr als 30 Prozent des Regelsatzes sind unzulässig / Bündnis von Verbänden und Parteien fordert Abschaffung aller Sanktionen

  • Lesedauer: 4 Min.

Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht hat die möglichen Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger erheblich eingeschränkt. Das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe erklärte am Dienstag die bei Pflichtverletzungen drohenden Leistungskürzungen teilweise für verfassungswidrig. Grundsätzlich sind Sanktionen demnach zwar möglich, beim Arbeitslosengeld II halten die Verfassungsrichter aber Kürzungen von mehr als 30 Prozent nicht mehr für verhältnismäßig. Der Gesetzgeber muss das Sanktionssystem nun neu regeln.

Die bisherige Regelung sieht drei Sanktionsstufen vor, wenn Hartz-IV-Empfänger etwa eine als zumutbar eingestufte Arbeit ablehnen. Zunächst wird der Regelsatz um 30 Prozent gekürzt, bei einer Wiederholung bereits um 60 Prozent. Bei jeder weiteren Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres entfällt das Arbeitslosengeld II komplett. Die Kürzungen gelten jeweils für drei Monate.

Die Verfassungsrichter halten es im derzeitigen System lediglich für möglich, die Leistung um 30 Prozent zu kürzen. Als unvereinbar mit dem Grundgesetz stuften sie es allerdings auch in dieser Sanktionsstufe ein, dass die Leistung selbst bei Härtefällen zwingend verringert werden muss. Die starre Dauer von drei Monaten bei jeder Kürzung ist demnach ebenfalls nicht haltbar. Eine Kürzung um 60 Prozent oder gar ein vollständiger Wegfall des Arbeitslosengelds II sind dem Urteil zufolge gar nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Hartz-IV-Satz für einen alleinstehenden Erwachsenen liegt derzeit bei 424 Euro. Zum 1. Januar 2020 steigt er auf 432 Euro.

Auslöser für das Verfahren in Karlsruhe war die Klage eines Arbeitslosen aus Thüringen, dem Leistungen gekürzt worden waren. Das Sozialgericht Gotha rief in dem Rechtsstreit das höchste deutsche Gericht an, weil es die Vorschriften für verfassungswidrig hielt. Es war der Ansicht, dass mit der vom Gesetzgeber gewählten Höhe des Regelsatzes bereits das vom Grundgesetz garantierte Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum festgelegt wurde und dies nicht unterschritten werden darf.

In dem Verfahren ging es nicht um kleinere Verfehlungen wie einen verpassten Termin beim Amt, die mit einer zehnprozentigen Kürzung geahndet werden. Dies ist die mit Abstand häufigste Sanktion. Überprüft wurden auch nicht die besonders scharfen Sanktionen für junge Hartz-IV-Empfänger unter 25 Jahren.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bezeichnete die Gerichtsentscheidung als ein »weises, ausgewogenes Urteil«. Es biete eine Chance auf gesellschaftliche Befriedung und gebe Rechtssicherheit in der 15-jährigen Debatte, sagte Heil nach der Verkündigung in Karlsruhe. Er kündigte auch Änderungen bei den Sanktionen für junge Erwachsene an, über die das Gericht nicht entschieden hatte. Unter 25-Jährige werden bisher am schärfsten sanktioniert.

Lay: »Grundrechte kürzt man nicht«

Viele Kritiker und Gegner des Hartz-IV-Systems begrüßten das Karlsruher Urteil. Einigen ging dieses allerdings nicht weit genug. »Hartz IV als System ist eine unzulässige Sanktion. Hartz IV stürzt Menschen und ihre Familien ins Bodenlose. Hartz IV hat den Sozialstaat ramponiert. Wir brauchen ein neues System der Arbeitslosenversicherung, das Sicherheit gibt und die Angst vor sozialem Absturz nimmt«, twitterte etwa Dietmar Bartsch, Fraktionschef der LINKEN im Bundestag kurz nach Bekanntwerden des Urteils. Seine Parteikollegin Caren Lay äußerte sich ebenfalls über die sozialen Netzwerke: »Grundrechte kürzt man nicht! Für eine sanktionsfreie Mindestsicherung statt Hartz IV!«

LINKEN-Parteichefin Katja Kipping erinnerte daran, dass sich ihre Partei gemeinsam mit Gewerkschaften, Wissenschaftlern und anderen Initiativen seit Jahren für die Abschaffung des Sanktionsregimes einsetzt. »Sanktionen verstoßen gegen die Würde der Leistungsberechtigten. Sie bestrafen und drohen, wo Respekt, Hilfe und Unterstützung notwendig sind«, heißt es dazu in einer Erklärung, die im Vorfeld der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes herausgegeben wurde. Zu den Unterzeichner gehören DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach, Ulrich Schneider, Präsident des Paritätischen Wohlfahrtsverband, der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers sowie Vertreter von LINKEN, Grünen und SPD, etwa Grünen-Parteichef Robert Habeck und die SPD-Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis.

Auch die Gewerkschaften ver.di und die IG Metall forderten weitgehende Reformen. Auf mehr Förderung und Qualifizierung pochte der Sozialverband VdK Deutschland. Der Deutsche Landkreistag plädierte zur Vermeidung von Bürokratie für eine Streichung der schärferen Regelungen für Unter-25-Jährige. Agenturen/nd

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -