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Es war einmal: der Besserossi
Michael Bartsch wirft einen distanzierten Blick auf hartnäckige ostdeutsche Befindlichkeiten
Die Stilisierung der DDR-Bürger zu Helden des Herbstes ’89 ist kaum mehr erträglich. Nur wenige wollten ihr Land selbst gestalten und viele sind nach der »Westerfahrung« in die geliebte Meckerei zurückgefallen.
Meine heutige Distanz zu ihnen ändert nichts daran, dass ich lange meine Ossi-Artgenossen für die besseren Menschen hielt. Es missfiel mir, wenn die zahllose Westverwandtschaft meiner Mutter schlesischer Abstammung bei Besuchen in der »Zone« gewiss gut gemeint, aber deplatziert Mitleid äußerte. Ihre ungewollte Herabwürdigung der armen Zonenkinder aber war leicht zu verzeihen eingedenk der üppigen Westpakete, in denen sich sogar Indexliteratur vor dem Röntgenauge der Stasi verstecken ließ.
Als ich dann 1986 - trotz Stasi-Akte, wie ich sie später einsehen konnte -, für zuverlässig und familientreu befunden wurde und daraufhin erstmals Zaun und Graben am Grenzübergang Gerstungen für ein Großfamilientreffen überwinden durfte, zahlte ich es ihnen heim. Zwei Tage stolperte auch ich besoffenen Auges durch die Einkaufspassagen von Soest, aber dann regte sich damals schon sozialpsychologische Neugier. Ich trampte auf eigene Faust los und versuchte, hinter die Potemkinschen Dörfer des Westens zu schauen.
Woraufhin ich ob meiner Herkunft immer stolzer wurde, ja sogar Überlegenheitsgefühle entwickelte. Wir waren noch nicht so degeneriert und affektiert, verstanden noch zu lieben und zu feiern, verstanden uns überhaupt mehr aus dem Sein als aus dem Haben. Meinte ich damals noch. In der kirchlichen Nische genoss ich außerdem erstaunliche Freiheiten. Bei bei der dritten Westreise im Sommer ’89 wehrte ich folglich alle Versuche ab, mich »drüben« zu behalten und die fünfköpfige Restfamilie nachzuholen. Bei uns war sowieso pralles Leben und noch richtig was los, und wir glaubten noch an etwas, und am 7. Oktober, dem Republikgeburtstag würde es krachen, prophezeite ich. Der SED, die schon lange an Karies litt, würde der Zahn gezogen.
Als es tatsächlich so kam, wuchsen plötzlich Zweifel am Superossi. Nachbarn, sogar Freunde aus der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, hatten gleich nach der Grenzöffnung nichts Eiligeres zu tun, als in Richtung westlicher Fleischtöpfe abzuhauen. Ein solcher Verrat an den hier zu bewältigenden Neugestaltungsaufgaben kam mir nun wirklich wie die seit dem Mauerbau als Todsünde geltende Republikflucht vor.
Die auf diese erste Enttäuschung folgende zweite Ernüchterung trägt ein Datum. Die Rufe »Wir sind ein Volk« auf den Montagsdemos, die das selbstbewusste »Wir sind das Volk« zunehmend verdrängten, empfand ich noch als natürlichen Ausdruck ethnischer Zusammengehörigkeit. Der Kniefall Tausender vor den billigen Verheißungen des Kanzlers Kohl vom 19. Dezember 1989 an der Ruine der Dresdner Frauenkirche aber ließ mich zerknirscht und gesenkten Hauptes vom Tatort schleichen. Krasser konnten meine gelobten Ossis ihre Selbstentmündigung nicht demonstrieren, während wir noch über unsere Emanzipation, eine neue humane Gesellschaft und »dritte Wege« nachdachten.
Den Rest gaben mir die Volkskammerwahlen vom 18. März 1990. Das Bündnis 90, der Zusammenschluss der renitenten Bürgerrechtsbewegungen aus DDR-Zeiten, bekam mit eben noch 2,9 Stimmenprozenten vom Ostwähler einen regelrechten Arschtritt. Sie waren die wirklichen Helden, die schon vor dem Herbst 89 etwas riskiert hatten. Auch die SPD als Bremser eines möglichst eiligen Anschlusses an die Bundesrepublik wurde abgestraft. Deutlicher konnte »das Volk« nicht ausdrücken, dass ihm politische Systeme ziemlich egal sind, wenn es nur Bananen gibt. Reisefreiheit, deren Verweigerung der größte Fehler des SED-Regimes war, war ja seit dem 9. November endlich wieder Normalität geworden, die Möglichkeit zu demokratischer Mitwirkung auch. Heute streiten sich einige Sophisten, ob der Herbst 89 wirklich eine Revolution war. Grotesk!
»Kein aufrechter Gang in die Einheit«, war mein erster Leitartikel in der absehbar dahindümpelnden Wende-Neugründung »Sachsenspiegel« vor dem 3. Oktober 90 überschrieben. Wollte ja auch niemand, man bückte sich lieber vor den Heilsbringern aus dem Westen. Aber kaum waren wir übernommen, ging, wie vorauszusehen, das Ningeln über die Zustände in Allesbesserland los. Diese Besserwessis in den Regierungen und Verwaltungen, die neuen Grüß-Gott-Onkels mit Buschzulage überall, die böse Treuhand, der neue Spott über die Zonenindianer in der Ostkolonie - nein, bitte, so hatten wir uns das Paradies nicht vorgestellt! Man stieß plötzlich an ganz neue Grenzen.
Zur Naivität meiner Ossi-Artgenossen kommt Schizophrenie hinzu. 20 Jahre nach den Irrtümern und Verletzungen der frühen Neunziger begannen diese traumatisch wieder aufzusteigen. Seither demonstriert ein erheblicher Teil von ihnen auf der Straße oder an der Wahlurne wieder gegen ein System, das sie damals ungeprüft nicht schnell genug herbeirufen konnten. Mit dem gleichen Ruf »Wir sind das Volk«! Viele der DDR-Überlebenden haben Demokratie, Pluralismus, Markt- und Mediengesellschaft immer noch nicht verstanden, fühlen sich erneut als Opfer von Indoktrination. Heute bekommt die Partei, die mit Ost-West-Ressentiments spielt und die Sehnsucht nach einem autoritären System bedient, ein Viertel der Wählerstimmen im Osten - die AfD.
Ich treffe niemanden, der im Jubeljahr 30 ein dringendes Feierbedürfnis verspürt, obschon rund 80 Prozent der Neufünfländler mit ihren Lebensumständen zufrieden sind. Im Grunde betrübt mich das. Vielleicht schämt sich heute mancher seiner primitiven Gier nach den Segnungen des Westens, ohne den Preis dafür gekannt zu haben. Lieber erstklassige Zonis als zweitklassige Deutsche? Ich schäme mich meiner Artgenossen nicht. Aber der Stolz auf sie ist der Nachsicht gewichen: So ist eben das Volk.
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