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Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand
Die Jugend eines sehr deutschen Rebellen: Markus Fausers lesenswerte Studie über «Rolf Dieter Brinkmanns Fifties».
Geboren zu Anfang des Krieges, in Norddeutschland, Vechta im südlichen Oldenburg, einer Kleinstadt von 15 000 Einwohnern, ein Schweinelandstrich, leeres Moor … viel krüppliges Grünzeug, katholisch verseucht«, so beschreibt Rolf Dieter Brinkmann in der WDR-Radiosendung »Autorenalltag« seine Provenienz, aufgenommen 1973, knapp anderthalb Jahre vor seinem Unfalltod in London, als er den Linksverkehr nicht beachtete.
1973 ist der Schriftsteller 33 Jahre alt. »Er ist schroff, provozierend, begabt. Er interessiert sich für Werbung, Comics, Popmusik«, fasst später der Deutschlandfunk zusammen. War er der erste Popliterat? Es wird immer wieder gerne behauptet.
Der WDR stellte ihm damals ein Tonbandgerät zur Verfügung, mit dem er sein Leben dokumentierte. Man hört sein Ressentiment. In den postum publizierten Kladden und Tagebüchern »Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand« reflektiert er es. »Warum will ich meine Herkunft nicht akzeptieren? Weil sie voller Drohungen und Schmerzen ist.«
Über seine Jugendzeit hat Markus Fauser eine sehr lesenswerte Studie vorgelegt: »Rolf Dieter Brinkmanns Fifties. Unterwegs in der literarischen Provinz«. Fauser ist Professor für Literaturwissenschaft und Leiter der Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann an der Universität Vechta. Sein Buch sei »ein Spaziergang in die Zeit einer damals jungen Generation und ihrer neuen angloamerikanischen Musik. Für sie konnte die Elterngeneration so gar kein Verständnis aufbringen«, wirbt der Aisthesis Verlag.
Die »Drohungen und die Schmerzen«, die Brinkmann verspürte, resultieren zunächst mal aus dem Krieg. Brinkmanns wohnen in einem Haus am Bahndamm, Ortsteil Falkenrott, in der Nähe des Fliegerhorsts, wo seine Mutter als Küchenhilfe arbeitet. Ende August 1944 wird der Fliegerhorst bombardiert, Brandbomben fallen auf die Stadt. Im März des Folgejahres, kurz vor Kriegsende, erobern alliierte Bodentruppen den Landkreis Vechta. Die Sirene heult den ganzen Monat, es ist fast permanent Fliegeralarm. Man flüchtet immer wieder in die Schutzräume. Am 24. März 1945 wird der Flugplatz binnen einer halben Stunde »umgepflügt«, am 2. und 3. April die Stadt erneut bombardiert. Am 12. April rücken »die Tommys« ein.
Seine früheste Erinnerung ist die einer existenziellen Bedrohung. »Einmachgläser springen von den Regalen im Keller nach einem dumpfen Luftdruck, dann ist vor dem Haus im Vorgarten Falkenrott ein riesiges, großes Loch, alle Fensterscheiben des Hauses sind geborsten, mir wird ein Federbett übergestülpt, und dann zersplittert Holz, und das Tacken eines Maschinengewehrs ist zu hören …«
Seine Mutter ermahnt ihn, den Mund geöffnet zu halten. Eine Vorsichtsmaßnahme gegen den Druck der Detonation. Das »ist die erste Lektion« seiner jungen Existenz, und sie prägt ihn. Die frühkindliche Erfahrung ist Zerstörung, Verheerung, Angst. Brinkmann fühlt sich als Opfer des Krieges, aber er darf es nicht sein. Denn jetzt »herrschte die dumpfe Atmosphäre einer Kollektivschuld, jetzt kamen die Grauenbilder, nachträglich dünn in der Gesamtatmosphäre eingelassen«, schreibt er in einem Brief an seine Frau Maleen, »und was hast Du damit zu tun gehabt? Was habe ich damit zu tun gehabt? Nichts, absolut nichts - aber der Druck war da, mal mehr, mal weniger - und dann wieder der kollektive Wahn: von außen verhängt - so, jetzt arbeitet mal als Volk die Schuld ab - jetzt leistet was - jetzt leistet Wiedergutmachung - voran! tüchtig! schuften! leisten! mitkommen! abarbeiten! Los! voran! wenn nicht, bleibste hängen! los! los!«
Es wird einem mulmig bei diesem Opferlamento, bei dem das Leid der anderen nur als Ursache für die gesellschaftliche Zwangsjacke der Nachkriegszeit in die Wertung kommt. In dieser Selbstwahrnehmung als doppeltes Opfer der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit steckt womöglich der Kern seines Minderwertigkeitskomplexes, der sich später zum berüchtigten Wutkomplex auswächst. Brinkmann laboriert am Deutschsein. Auf ungute, auf sehr deutsche Weise.
Dass Brinkmann unter der Schule gelitten hat, bleibt davon ja unberührt. Bereits die Volksschule stinkt ihm - ganz wörtlich, nach »alten Schuhen und Staub«. Die Kinder sitzen »zu zweien in engen zerschnitzten, zerkratzten Holzbänken, vertrocknete Tinte um die Tintenfässer in der Schreibfläche« und rutschen »je nach Leistung: eine Reihe rauf, eine Reihe runter - sinnlose Verschiebungen, erneute Angst«. Immerhin, er sitzt weit vorn und kommt Ostern 1951 aufs stockkonservative, »humanistische« Gymnasium Antonianum. Schon das Gebäude sieht aus wie ein Knast. Brinkmann lernt dort Latein noch vor Englisch. In der neunten Klasse kommt Griechisch dazu und wird ihm zum Verhängnis, er bleibt sitzen. Auch die Zehnte wird er nicht bestehen, seine Leistungen in Griechisch, Mathe und Chemie sind unterm Strich, und so verlässt er das Antonianum Mitte März 1958, um eine Lehre als Verwaltungsangestellter beim Finanzamt Vechta zu beginnen. Ausgerechnet das Finanzamt. Schon ein Jahr später schmeißt er hin und beginnt in Essen eine Buchhändlerlehre.
Ihm »gings ziemlich an den Kragen in der Schule«, erinnert er sich später, »und ich war ganz wirr wegen des Sterbens meiner Mutter, mit der ich so viele Kräche hatte, sie warf immer mittags Putzlappen nach mir, prügelte mich oft, ich musste fegen und spülen, hasste das«. Sie stirbt an Brustkrebs. »Und da ist dieser eiternde Lappen, der Riß, wo jetzt die Brust fehlt, unter den gelben, von eiternden Wunden gefärbten Mullbinden, die abgehoben werden und ich sehe 1956 diesen Teil eines Körpers, an dem ich früher gelutscht habe. Und der Teil ist nur eine brennende rot-entzündete fehlende Stelle«.
Die Mutter zeigt in ihrer Verzweiflung dem Pubertanden die grauenhafte Wunde. Der Sechzehnjährige erlebt ein Trauma, das er ein paar Jahre später in der Erzählung »Der Arm« bearbeitet. Brinkmann beschreibt hier in schonungsloser, fast schon pornografischer Detailliertheit ihr Siechtum, eben auch die Szene, in der die Mutter ihren Jungen mit dem unerträglichen somatischen Schrecken konfrontiert. Man muss wohl einen Zusammenhang annehmen zwischen der familiären Tragödie und dem schulischen Scheitern. Im Nachhinein kontaminiert diese gefühlte Niederlage alle Erinnerungen an die Schulzeit. Noch in seinen Aufzeichnungen aus den 70er Jahren bricht sich eine kompensatorische Wut Bahn. »Ich habe oft gedacht, dass man die Erwachsenen totschlagen müsste«, erinnert er sich in »Rom, Blicke«, »ich habe den Lehrern Knochenbrüche gewünscht, ich habe ihnen das Dreckigste, was man sich vorstellen kann, an den Hals gewünscht - ich bin von Krüppeln erzogen worden mit Krüppelvorstellungen! Und ich musste mich gegen eine Überzahl von Krüppeln verteidigen, zur Wehr setzen!« Einmal mehr die Opfer-Imago, aus der er sich seine Legitimation zur Rebellion holt, die er dann schon früh in die Tat umsetzt.
Bei den ehemaligen Schulfreunden und Schülern der jüngeren Jahrgänge erwirbt er sich einen legendär schlechten, also guten Ruf als vorlauter, renitenter Klassenkasper und Störenfried, einer, der sich nichts bieten lässt, der aufmuckt gegen die katholisch-vermuffte Abrichtung durch eine überalterte Lehrerschaft. Eine andere Reaktion neben dem Renegatentum auf den beengend empfundenen Schulalltag ist die Flucht. Brinkmann schwänzt den Unterricht, wie so viele Pubertanden zu allen Zeiten. Und er entdeckt die Literatur als Refugium. Er schließt sich der der schulinternen Literatur- und Theater-AG »Rhetorica Vechtensis« an und reüssiert schon bald als Beckmann, Hauptfigur in Wolfgang Borcherts »Draußen vor der Tür«. Das passt fast schon zu gut.
Borcherts Hauptwerk, zuerst im Februar 1947 als Hörspiel ausgestrahlt, ist das Stück, das die Deutschen zu Opfern macht. Und eben nicht nur die Elterngeneration. In seinem Unbehagen und in seiner larmoyanten Klage über die Zeit und das Dasein können sich auch die Jüngeren wiederfinden - und so einer wie Brinkmann, der sich selbst als randständiger Loser und Rebell wahrnimmt, erst recht.
Zur gleichen Zeit beginnt er selbst mit dem Schreiben. Er liest Sartre, Camus, Heidegger und die entsprechende Sekundärliteratur und gießt das Halbverstandene in Exzerpte, aus denen er dann in den Sitzungen der »Rhetorica Vechtensis« vorträgt und meistens harsche Kritik erntet, vor allem von den Frömmlern in der AG, die im Existenzialismus nicht zu Unrecht eine konkurrierende Religion fürchteten. Diese Vorträge sind erste, wie meistens eher gewollte als gekonnte Profilierungsversuche. Es kommt zu Hahnenkämpfen zwischen den jungen Klugscheißern der AG, die sich aneinander reiben und ihren Esprit aneinander ausprobieren. Erstaunlich ist das enorme Lektürepensum, das sich Brinkmann auferlegt. Hier hat er endlich etwas, das ihn wirklich herausfordert, für das er brennt. Und der Existenzialismus mit seiner Konstruktion des »Poète maudit«, des moralisch fragwürdigen, außerhalb der Gesellschaft stehenden Dichters, offeriert ihm auch ein Rollenmodell, mit dem er sich leicht identifizieren kann.
Tatsächlich fängt er in diesen Jahren auch an, Gedichte zu schreiben. Im Frühjahr 1957 schickt er Liebesgedichte an eine von Ferne angehimmelte Internatsschülerin, mit der er vermutlich nie ein Wort gesprochen hat. Markus Fauser hat in seiner unbedingt lesenswerten, materialreichen biografischen Spurensuche einige dieser Gedichte faksimiliert. Wer das artifiziell Hingerotzte des späteren Popliteraten, die furiose Fundamentalopposition gegenüber dem gängigen bildungsbürgerlichen Poesieverständnis zu schätzen weiß, ist fast schon verstört von dieser Anbiederung an die Konvention, dieser Beflissenheit und nicht zuletzt auch pene᠆tranten Bildungshuberei.
Er versuche »bewusst, den im Augenblick wohl modischen Beatnik-Ton in meinen Textversuchen zu vermeiden«, schreibt er in diesen Jahren an »Akzente«-Redakteur Hans Bender, dem er einige Gedichte zum Druck anbietet. Wie wahr. So alt, wie er hier bisweilen klingt, wurde er gar nicht erst.
Markus Fauser: Rolf Dieter Brinkmanns Fifties. Unterwegs in der literarischen Provinz. Aisthesis, 116 S., br., 19,80 €.
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