Pionierhalstücher umbinden reicht nicht

Osten oder Arabien: Die 43. Duisburger Filmwoche war nach 34 Jahren die erste ohne Werner Ruzicka als Chef

  • Matthias Dell
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Auftakt der 43. Duisburger Filmwoche am Montag vergangener Woche war ziemlich lässig. Die aktuelle Ausgabe präsentierte sich als die erste nach dem Abschied des charismatischen Werner Ruzicka, der das Dokumentarfilmfestival 34 Jahre lang als Leiter geprägt, wenn nicht verkörpert hatte. An seiner Stelle ist nun eine Doppelspitze aus Gudrun Sommer und Christian Koch für die Filmwoche verantwortlich. Und deshalb ist es bemerkenswert, wie unaufgeregt Sommer in ihrer Eröffnungsrede etwaigen Erwartungen an Innovation und Neuerung begegnete.

Sommer, die als Begründerin der Kinder- und Jugendsektion »doxs!« das Festival lange kennt, sprach vielmehr von »in der Spur bleiben«, von einer gelassenen »Geste des ›Na, und?‹«, weil die Frage, worum es gehe, nicht rechnerisch beantwortet werden könne. In Duisburg soll es auch weiterhin um den Dokumentarfilm als künstlerische Form gehen, weshalb die Grundstruktur des Festivals die gleiche bleibt - und sein Wachstum limitiert.

Die 23 mittellangen und langen Filme dieses Jahrgangs wurden wie in den Jahren zuvor streng nacheinander gezeigt im Film-Forum am Dellplatz, das 193 Zuschauerinnen fasst. Nach jedem Film wird an einem anderen Ort geredet und diskutiert, die Debatte zugleich protokolliert. So sehen alle das gleiche Festival, so bewegt sich die Publikumsmasse hin und her zwischen Film-Forum und Volkshaus.

Der Reiz dieser bescheiden wirkenden Anlage erschließt sich unmittelbar. Wo andere Festivals mit sich stetig übertreffenden Programmumfangsvermessungen die eigene Bedeutung zu pflegen versuchen, profitiert in Duisburg jeder Film von der sturen Konzentration auf die Kunst und den Diskurs darüber.

Und diese Diskussionen sind mitunter kontrovers, was etwa beim Dokumentarfilmfestival in Leipzig weniger gern gesehen wird: Dort wurde eine Spielstätte nach einem hitzigen Filmgespräch 2018 in diesem Jahr vom Festival ausgeschlossen. Am engagiertesten ging es in Duisburg nach der Vorführung von »Fortschritt im Tal der Ahnungslosen« zu. Dem Film liegt eine feuilletonistische Idee zugrunde: In einem ehemaligen »Fortschritt«-Betrieb im sächsischen Neustadt werden Flüchtlinge aus Syrien untergebracht - ein Land, zu dem die DDR einst ökonomische Beziehungen unterhielt, wie einige Biografien der lokalen Bevölkerung bezeugen. Regisseur Florian Kunert versuchte, den Heimatverlust der neu angekommenen Syrer mit dem der Ostdeutschen kurzzuschließen, die ohne sich zu bewegen, 1990 in einem anderen System aufgewacht sind.

Das tat »Fortschritt im Tal der Ahnungslosen« allerdings durch rein äußerliche Wiederaufführungen von DDR-Dekor: Die jungen Syrer dürfen lernen, wie in der Schule gemeldet wurde, dass »die Klasse 2b« zum Unterrichtet bereit ist, fahren Trabi, sollen in GST-Uniformen strammstehen. Und zwischendurch wird ein Chor aus Autochthonen ins Feld drapiert und singt »Unsere Heimat«.

Wie sehr diese schnell verstandene Methode den Film in seiner Erzählung begrenzt, zeigte sich an einem sächsischen Ehepaar, das ein Erich-Honecker-Bild halten muss, um vom Früher zu erzählen. Die Gattin bemerkt, bei den Fernsehauftritten des Staatsratsvorsitzenden gedacht zu haben, »Honi« rede halt wieder. Worauf der Mann unter der Last des riesigen Bildes zu einem merkwürdigen Entschuldigungsexkurs ansetzt. Was nur illustrierte, dass an das, was das Leben in der DDR selbst in seiner ganzen Widersprüchlichkeit gewesen ist, schlecht ranzukommen ist, wenn man den Interviewten die Pionierhalstücher der Offizialgeschichte umbindet. Die klischierte DDR-Darstellung von »Fortschritt im Tal der Ahnungslosen« wurde in der Diskussion also völlig zu Recht kritisiert; dass der Film überhaupt ausgewählt wurde, steht wohl auch für die Ferne aus der - bei allem Bewusstsein für hochstehende Filmkunst - in Duisburg gen Osten geschaut wird.

Wie sich wesentlich eleganter über Tradition und Migration reflektieren lässt, führte »Bewegungen eines nahen Bergs« von Sebastian Brameshuber vor, der mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet wurde. Die stille Beobachtung gilt dem stoischen Clifford Agu, der in seiner Werkstatt in Österreich gebrauchte Autos repariert oder ausschlachtet, um sie vor Ort oder nach Nigeria zu verkaufen. Gerahmt wird der Film von einer regionalen Legende, wonach dem steirischen Erzberg das Eisen nie ausgehen würde. Was Agus Geschäftsmodell in die Gegenwart übersetzt: Wert kann noch im letzten Einzelteil stecken, das anderswo längst verschrottet worden wäre.

Gerade durch die Zurückhaltung der Regie werden in »Bewegungen eines nahen Bergs« die Adaptionsprozesse von Agu und seinem Mitarbeiter Magnus Oqbonna nachvollziehbar: Wie beide darüber räsonieren, dass in Österreich die mündliche Vereinbarung, die in Nigeria größere Transaktionen ermöglicht, nichts gilt, und man wegen irgendwelcher Autos in weit entfernte Orte fährt, um kurz vor Erreichen des Ziels den Deal telefonisch annulliert zu bekommen.

Autos bildeten ein interessantes Navigationsinstrument durchs Festival. Von den alt gewordenen VWs und Opels von Clifford Agu ging es über die schrammeligen Passats, in denen die rumänischen Pilzsucher aus der ethnografischen Studie »Olanda« von Bernd Schoch (Arte-Preis) ihre Ware zu Zwischenhändlern transportieren, zu den Luxuskarossen in »Another Reality«. Darin versammeln Noël Dernesch und Olli Waldhauer die Lebensgeschichten von Agit, Ahmad, Parham, Kianush und Sinan - Auskünfte aus dem großfamiliendominierten Mikrokosmos arabischer Männer. Sie berichten von der Gewaltlogik einer Schattenwelt, in die das schnelle Geld auch deshalb lockt, weil sich die Pfade ins bürgerliche Berlin mühsam erarbeitet werden müssen.

In gewisser Weise ließ sich der Film als Sehnsucht nach biederer Normalität verstehen, nach einem Ankommen in der »Wohnung Realität«, wie es einmal heißt. Nur leider pimpte der Film seine klugen Erzählungen in die beflissene Großstadt-Hochglanz-Gangster-Ästhetik, die genau jene Bilder vertreibt, zu denen in den Geschichten eine Differenz aufgemacht wurde. Man könnte auch sagen: Das Kino entkommt sich selbst nicht.

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