Deutungskämpfe um Hartz-IV-Sanktionen

Nach dem Karlsruher Urteil sehen sich Konservative als auch linke Kräfte in ihrer Haltungen bestätigt.

  • Alina Leimbach
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer derzeit über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sanktionen liest, fragt sich manchmal, ob überhaupt vom gleichen Urteil die Rede ist. Denn während die FAZ beispielsweise nach dem Richterspruch in Karlsruhe kommentiert: »Signal für einen fordernden Sozialstaat«, urteilte der Spiegel: »Mit seinem Urteil zu Hartz-IV-Sanktionen macht Karlsruhe vor allem eins klar: Das Sozialgesetzbuch darf Menschen nicht bestrafen, es soll ihnen helfen.«

Es ist ein Deutungskampf um das Urteil entbrannt. Die zwei Lager könnte man wie folgt einteilen: Die Konservativen und Liberalen versuchen nun ihre Position, dass Sanktionen wesentlicher Teil des Sozialstaats sind, als bestätigt zu erklären. Sie verweisen darauf, dass Karlsruhe eben Sanktionen als zulässig erklärt hat. Unter den Tisch fällt dabei, dass es eben nicht mehr grenzenlos wie bisher möglich ist. Progressive Kräfte verweisen dagegen gerade auf diese engen Grenzen, die das Urteil der Sanktionspraxis steckt.

Dieser Konflikt zeigte sich auch in der Plenardebatte am Donnerstag im Bundestag. Grüne und Linksfraktion hatten gemeinsam einen Antrag zur Abschaffung aller Hartz-IV-Sanktionen eingebracht. Aus der Unionsfraktion kam Ablehnung: »Das Prinzip des «Forderns und Förderns», (..) ist vom Verfassungsgericht bestätigt worden«, sagte beispielsweise der sozialpolitische Sprecher der CDU /CSU-Fraktion, Peter Weiß. Man sei nicht bereit, genau »das Gegenteil davon zu tun«, was die Richter*innen in ihr Urteil geschrieben haben.

Sein Fraktionskollege Matthias Zimmer wagte sich sogar an den Satz: »Das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss eben nicht, wie im Antrag formuliert, uneingeschränkt jedem Menschen garantiert werden«, sondern könne an Bedingungen geknüpft werden.

Stellvertretend für die progressive Auslegung des Urteils erklärte LINKEN-Chefin Katja Kipping: »Ich finde, dieses Urteil stellt einen geschichtlichen Fortschritt dar.« Sie sieht das Urteil als »Rückenwind« für Sanktionsfreiheit. Dem »nd« hatte sie schon am Tag der Richerentscheidung gesagt: »Es ist auch ein Urteil über die Agenda 2010 Politik. Wesentliche Disziplinarstrafen aus dem Regime wurden für ungültig erklärt und die seither in Teilen noch immer vorherrschende Meinung 'Nur wer arbeitet, soll auch essen', als nicht verfassungsmäßig abgeurteilt.«

Wie kommen nun diese beiden so fundamental verschiedenen Argumentationsmuster zustande?

Weil das Bundesverfassungsgericht ein komplexes Urteil gefällt hat, das paradoxe Momente enthält. Denn ja: Auf der einen Seite erklärt es, dass Mitwirkungspflichten unter gewissen Bedingungen eine zulässige Ausnutzung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums sein können. Diese Mitwirkungspflichten könnten vom Gesetzgeber auch »durchsetzbar« ausgestaltet werden, sprich: über Sanktionen oder Androhung derselben eingefordert werden. Darauf stützen sich nun die Konservativen.

Auf der anderen Seite hat das Gericht das bisherige Sanktionsregime extrem zurechtgestutzt. Ein Großteil der bisherigen Praxis wird null und nichtig: »Totalsanktionen und 60 Prozent-Sanktionen entfallen, es gibt Ausnahmen für Härtefälle, der bisherige starre Sanktionszeitraum von drei Monaten kann verkürzt werden«, fasst es beispielsweise der Ex-Bundesgerichtshof-Richter Wolfgang Nešković zusammen. All das wird als »nicht zumutbar« beurteilt.

Wer noch genauer ins Urteil einsteigt, wird noch mehr Punkte finden, die die Sanktionslogik eng begrenzen, wenn nicht ad absurdum führen: »Die den entsprechenden Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu, ist dem Grunde nach unverfügbar und geht selbst durch vermeintlich 'unwürdiges' Verhalten nicht verloren; sie kann selbst denjenigen nicht abgesprochen werden, denen schwerste Verfehlungen vorzuwerfen sind.« Zudem dürften sie nicht als »repressiv« genutzt werden und schließen »Mitwirkungspflichten aus, die auf eine staatliche Bevormundung oder Versuche der ‚Besserung‘ gerichtet sind«. Sie dürfen auch nur eingesetzt werden, wenn sie plausibel annehmbar dazu beitragen, die »Hilfebedürftigkeit« des oder der Leistungsbeziehenden zu überwinden und verhältnismäßig sind.

Zudem darf eine Leistungskürzung nur angewandt werden, wenn es kein anderes, milderes Instrument zur Verfügung steht und auch nur dann, wenn die Belastung nicht zu stark für die Betroffenen wird: »Ihre Zumutbarkeit richtet sich vor allem danach, ob die Leistungsminderung [..] als mildestes, gleich geeignetes Mittel in einem angemessenen Verhältnis zur Belastung der Betroffenen steht.«

Auch wird noch einmal auf zuvor gefällte Entscheidungen verwiesen: Der Staat habe eine »Existenzsicherungspflicht« und die Sanktionen, so irrwitzig das klingt, räumt das Verfassungsgericht sogar selbst ein, stünden dazu in »einem unübersehbaren Spannungsverhältnis«. Diese Paradoxie ist auch angesichts der alten Urteile des Bundesverfassungsgerichts noch einmal augenscheinlicher. Dort hatten die Richter*innen den Regelsatz als »Existenzminimum«, das »stets eingelöst werden müsse« und »unverfügbar« sei beurteilt. Das ganze leitet sich direkt aus der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes ab. Das betonten die Richter*innen auch in ihrem aktuellen Urteil.

Der Ex-BHG-Richter Nešković meint zu den nun vom Verfassungsgericht in engen Grenzen zulässigen Sanktionen: »Das Urteil ist mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV nicht vereinbar.« Es sei ein »sprachliches und logisches Kunststück.« »Ein solches Minimum eines Minimums ist begrifflich ausgeschlossen.«

Die Karlsruher Richter*innen lassen Sanktionen eine kleine Hintertür offen, indem sie Sanktionen bis 30 Prozent als noch zulässig werten. Der kleine Spalt, der offen gelassen wurde, ist wohl eine Konzession daran, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum einräumen will. Das ist eine übliche Praxis in Karlsruhe, auch wenn sie zu einigen Paradoxien führt. Zugleich definiert das Urteil so viele Ausnahmen und Grenzen, dass es die bisherige Sanktionspraxis quasi beendet.

Was das Urteil eindeutig nicht ist: Ein Blankocheck für Sanktionen. Schon gar nicht leiten sich die Sanktionen direkt aus der Verfassung ab, auch wenn einige Konservative das nun so versuchen Glauben zu machen. Stattdessen stellen die Richter*innen eineindeutig klar, dass Sanktionen nur eine Möglichkeit des Gesetzgebers sind. Das kommt auch in dem letzten Statement zum Ausdruck: »Der Gesetzgeber hat neu zu regeln, ob und wie Pflichtverletzungen (..) sanktioniert werden. Es liegt in seinem Entscheidungsspielraum, ob er weiterhin Leistungsminderungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten vorgeben und in unterschiedlicher Höhe ansetzen will.«

Katja Kipping hat recht, wenn sie nun sagt: »Mit ist bewusst, dass jetzt ein Kampf um die Interpretation stattfindet.« Denn nun geht das Ringen um die Deutungshoheit erst los. Wer das Urteil aber genau liest und sich auch die vorherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum grundgesetzlich garantierten Existenzminimum ansieht, der kann Sanktionen nicht mehr wie gehabt verteidigen. Es wäre deswegen nur im Sinne des – derzeit so oft hochgehaltenen Grundgesetzes – wenn das menschenwürdige Existenzminimum in Zukunft das ist, was die Richter*innen schon 2010 geurteilt haben: unverfügbar und einzulösen.

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