- Berlin
- Zwangsräumung
Daniel gegen Goliath
Nach 35 Jahren in derselben Wohnung droht einem Weddinger die Zwangsräumung.
Ich brauche Zeit, um nachzudenken, wie es weitergehen soll«, sagt Daniel Z. In ein paar Tagen läuft die sechswöchige Frist ab, für die seine Zwangsräumung ausgesetzt war. Bereits am 14. Juni dieses Jahres hat er den ersten Räumungstitel erhalten, sein Anwalt erwirkte gerichtlich vier Monate Aufschub. Für Mitte Oktober wurde der zweite Termin anberaumt - und noch einmal aufgeschoben. Ab dem 30. November kann nun theoretisch täglich die zuständige Gerichtsvollzieherin vor der Tür stehen - wenn nicht noch ein Wunder passiert. Zum Beispiel die Beschlagnahmung seiner Wohnung durch den Bezirk Mitte, wie sie die Bezirksverordnetenversammlung auf Antrag der Linksfraktion am Donnerstagabend beschlossen hatte. »Wir berufen uns auf das in diesem Jahr veröffentlichte Gutachten zur ordnungsbehördlichen Beschlagnahme von Wohnungen als Maßnahme gegen Obdachlosigkeit, das der Wissenschaftliche Parlamentsdienst des Berliner Abgeordnetenhauses erstellt hat«, sagt die LINKE-Bezirksverordnete Katharina Mayer »nd«. »Nun müssen wir darauf hoffen, dass das Bezirksamt auch tätig wird!«, twitterte sie nach dem Beschluss.
4918 sogenannte Räumungsaufträge wurden 2018 in der Stadt Berlin erteilt, nicht alle landen beim Gerichtsvollzieher. Mindestens zehn Zwangsräumungen werden dennoch täglich durchgeführt. Auch für Daniel Z. geht es um seine Existenz. »Ich kann nicht in einer x-beliebigen Wohnung sein, an dieser hängt doch mein halbes Leben«, sagt er. Seit einem Dreivierteljahr lebt der 54-Jährige zwischen gepackten und ordentlich beschrifteten Umzugskartons. Am Schreibtisch im Wohnzimmer der Erdgeschosswohnung in der Transvaalstraße in Wedding sucht er nach Dokumenten, die seine Geschichte erzählen.
Seit über 35 Jahren wohnt Daniel Z. hier. 1983 übernimmt er die Einzimmerwohnung von seinem älteren Bruder. Im Mietvertrag stehen noch die Namen der Eltern, die Miete beträgt 113 Mark. Der gelernte Tischler baut Küche und Bad ein - Mitte der 1980er Jahre längst noch kein Standard in vielen West-Berliner Stadtteilen. »Das war doch hier die letzte Ecke«, lacht der gebürtige Charlottenburger.
1986 kauft Joachim Zunker aus München, Bruder des jetzigen Eigentümers, Dietrich Zunker, das Haus. 1987 fällt die Mietpreisbremse in West-Berlin, es gibt Zuschüsse für Modernisierungen. Der neue Vermieter bietet Daniel Z. an, nacheinander neue Fenster und ein Gasetagenheizung einzubauen. Beides lehnt Z. ab - das Geld für die dann mehr als doppelt so hohe Miete hat der damals Mitte Zwanzigjährige nicht. »Und eine Parterrewohnung heizt man besser mit Kohle als mit Gas«, findet er bis heute. Bei der Modernisierung Mitte der 1990er Jahre soll aber der Austausch der alten Bleiwasserrohre stattfinden. Daniel Z. geht davon aus, dass auch die Rohre in seinem Trakt erneuert worden sind.
Knapp zehn Jahre später findet er heraus, dass dies nicht geschehen ist. 2004 schickt er mehrere Briefe an seinen Vermieter, fordert neue Rohre sowie die Instandsetzung der kaputten Öfen. Er erhält keine Antwort. Daniel repariert die Öfen selbst und - kündigt eine Mietminderung an. Als er auch darauf keine Reaktion bekommt, mindert er ab Mitte 2005 die Miete direkt um 100 Prozent. Im selben Zeitraum werden einzelne Wohnungen in Eigentum umgewandelt, die übrigen gehören seitdem Dietrich Zunker, dem Bruder des Vermieters. Im Jahr 2008 werden die Keller in Vorderhaus und Hinterhäusern renoviert - dabei, sagt Z., sei wohl aufgefallen, dass er seit drei Jahren keine Miete zahle. Er trifft sich mit dem nun als Verwalter des Hauses agierenden Joachim Zunker und verweist auf ausstehende Reparaturen. Statt dieser kommt im Jahr 2010 per Brief die Kündigung der Wohnung.
»Darauf habe ich nicht reagiert«, erzählt Daniel Z. zurückhaltend. Vielleicht sei das ein Fehler gewesen. Er kämpft da bereits mit gesundheitlichen Problemen, kann nicht mehr durchgehend arbeiten und gilt nach einer Knie-OP als chronisch krank. Z. macht eine Weiterbildung zum Präzisionsfräser. »Aber ich konnte nicht kontinuierlich an der Maschine stehen.«
Es geht Daniel Z. nicht gut. Erholung und Regeneration findet er im Garten am Bahnhof Südkreuz, den er seit Beginn der 2000er Jahre bewirtschaftet. Bereits seine Großeltern haben hier Anfang des 20. Jahrhunderts eine Parzelle gepachtet. Z. steckt viel Zeit in den Garten, baut Kräuter an und Obststräucher - und kommt etwas zur Ruhe. Im Jahr 2013 wird bei ihm eine seltene Krebsart diagnostiziert. Daniel befürchtet, der über Jahrzehnte erhöhte Bleiwert in seinem Trinkwasser habe diese ausgelöst. Ein Test seines Wassers ergibt einen 77-fach erhöhten Bleigehalt über dem erlaubten Grenzwert von 0,01 Milligramm pro Liter.
Z. besiegt den Krebs. Aber Anfang des Jahres 2016 kauft die Gewerbesiedlungs-Gesellschaft (GSG) der Stadt Berlin das Gelände der Kleingartenanlage, zum Ende des Jahres soll sie geräumt sein. Daniel Z. setzt sich für deren Erhalt ein, nicht nur, weil er den Ort selbst so sehr braucht. Vergeblich: Wie die anderen Pächter*innen auch, verliert er seinen Garten. Am 22. August 2016 findet er zudem einen Zettel an der Wohnungstür: Dietrich Zunker will die Wohnung verkaufen. In einem kurz darauf stattfindenden Gespräch mit Z. fordert er die Zahlung der »Mietschulden«, inklusive aller Mieterhöhungen und erhöhten Betriebskosten, insgesamt 9000 Euro. Daniel Z. erachtet das Jobcenter für zuständig; dieses lehnt die Übernahme der Zahlung 2017 ab. Die anschließende Klage des Eigentümers geht auch an Daniels Eltern - als Mietvertragspartner. Sie beauftragen einen Mietrechtsanwalt, der zugleich Vorstand und Geschäftsführer beim Eigentümerverband Haus und Grund ist. Dieser setzt sich für eine geringfügige Minderung der geforderten Zahlungen ein. »Ein absoluter Interessenskonflikt«, sagt Daniel im Nachhinein. Der Anwalt habe ja per se nicht sein Interesse vertreten können - die Wohnung zu halten.
Seit 2019 wird Z. nun von Henrik Solf vertreten. Dieser kann den Aufschub der Räumung erwirken. Daniel sucht sich Unterstützung beim Bündnis gegen Zwangsräumung, engagiert sich selbst dort. »Die Solidarität tut gut«, sagt er. Er will weiter »kämpfen, ohne zu kämpfen«, fühle sich nicht als Opfer und nicht als Held. »Aber wenn ich nicht weiß, wohin, dann fühlt sich das lebensgefährlich für mich an.« Den Garten habe er schon verloren. »Ich brauche einen Ort für mich.«
Dietrich Zunker möchte sich am Telefon »aus gesundheitlichen Gründen« nicht zum Fall von Daniel Z. äußern. »Ich habe hier genug durchzustehen«, sagt er gegenüber »nd«. »Wenden Sie sich an das Gericht, dort wird alles rechtens entschieden werden.«
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