- Politik
- Rentenreform
Generalstreik bringt Paris zum Stillstand
Präsident Macron will an umstrittener Rentenreform festhalten / Die Pariser nehmen den Ausstand gelassen
Die Bahnhöfe sind leergefegt, nichts geht mehr an diesem Donnerstag in Paris. «Sie brauchen heute kein Ticket, die Züge fahren nicht», sagt ein Bahnangestellter zu einer Gruppe Wartenden. Angeblich fahren 90 Prozent der Züge in ganz Frankreich nicht mehr. Einen ähnlichen Stillstand hat Frankreich lange nicht mehr erlebt. Im September gab es einen Vorgeschmack, als bei einem Warnstreik die Metro stillstand. Der Stillstand heute ist jedoch außergewöhnlich.
Viele erinnern sich noch an 2010, «wir waren eine Millionen Menschen auf den Straßen», sagt ein Streikender, «an diese Erfolge wollen wir anknüpfen.» Nichtsdestotrotz hat der damalige Präsident Nicolas Sarkozy seine Rentenreform nach zwei Monaten massiven Auseinandersetzungen schließlich durchs Parlament bringen können. Davon will sich hier heute aber niemand beirren lassen. Es geht wieder um eine Rentenreform, nur das der Präsident jetzt Emmanuel Macron heißt.
Einzig die Metrolinien 1 und 14 fahren noch regelmäßig – sie werden automatisch betrieben, auch ein Rumpfbetrieb der Linie 7 als Nord-Süd-Achse soll aufrechterhalten werden. Ähnlich sieht es in ganz Frankreich aus, besonders stark ist die Streikbeteiligung in der Bretagne und in der südfranzösischen Region Occitanie, wo quasi nichts mehr fährt. Und nicht nur die Bahnangestellte streiken heute. Auch 70 Prozent der Grundschullehrer*innen sind in den Ausstand getreten. Ganze drei Schulen haben angeblich noch geöffnet in Paris.
Frankreich steht still, doch die Pariser nehmen es noch relativ gelassen hin. Entgegen den Befürchtungen sind die Staus um Paris herum sogar weniger als sonst. Viele arbeiten heute von zuhause aus oder nehmen das Fahrrad. Für die Fahrdienstleister ist das heute nicht nur ein guter Geschäftstag. Einer zeigt sich ganz überrascht davon, wie leer die Straßen sind, er habe schon seine dritte Lieferung beendet: Es fühle sich an «wie im August, niemand ist auf den Straßen», sagt er. Auch ansonsten scheinen die Pariser mit der Situation recht pragmatisch umzugehen. Laut Umfragen unterstützen außerdem 66 Prozent der Franzosen den Streik oder sehen ihn als legitim an.
Nicht nur die Rentenreform treibt viele Franzosen auf die Straße
Landesweiter Streiktag wird vor allem von Gewerkschaften im Öffentlichen Dienst angeführt
Voll wird es dagegen bald in der Innenstadt von Paris werden. Bis zu 270.000 Menschen werden heute frankreichweit auf den Straßen erwartet. Die Gewerkschaften und die Studierenden haben zu einer Großdemonstration in Paris aufgerufen. Inzwischen sind es weit mehr als die Schätzung von 25.000, die für die Demo in Paris vorher ausgegeben wurden.
Eine Gruppe sammelt sich am Gare de l’Est (Ostbahnhof). «Besonders getroffen sind wir Frauen durch die Rentenreform: deswegen bin ich heute hier.», sagt eine Demonstrantin. Wer eine Auszeit von der Arbeit etwa wegen Schwangerschaft hat, wird bei der Rente noch schlechter gestellt. Auch Gelbwesten sind zu sehen, sie rufen dazu auf die Kämpfe zusammenzuführen. «Auch wir sind heute hier und wir werden nicht wieder gehen, bis Macron endlich zurückgetreten ist», sagt ein Demonstrant in gelber Weste, «seine Arroganz ist die Ursache für die Bewegung der Gilets Jaunes, seine neoliberale Politik sei »auch die Ursache für diesen Streik.«
Die Studierenden haben sich ebenfalls den Streiks angeschlossen. Sie wollen »die Kämpfe der Arbeiter*innen, Arbeitslosen und Studierenden vereinen, denn Prekarisierung betrifft hier jeden«, sagt eine Studentin. Die Wut ist groß. In den letzten Wochen gab es zwei versuchte Selbstverbrennungen. Eine Schülerin und ein Student sind mit schweren Verletzungen davongekommen. In einem Abschiedsbrief hat der Student die Politik schwer beschuldigt. Nachdem seine finanzielle Unterstützung gestrichen worden sei, habe er keinen Ausweg mehr gesehen.
Auch die Pariser Polizei hat sich gewappnet. 6.000 Beamte sollen heute allein in Paris auf den Straßen sein. Am Gare de l’Est gibt es massive Polizeikontrollen. »Wir werden kriminalisiert«, empört sich eine Demonstrantin, Macron habe Angst, er setze »die demokratischen Rechte unablässig außer Kraft und regiere mit Notstandsverordnungen«. Schon seit Tagen fahre »der Staat die Repressionsmaschinerie hoch«, sagt ein Student. Tatsächlich wurden Universitäten dicht gemacht, damit die geplanten Vollversammlungen dort nicht stattfinden können.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.