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Symphatie für Streikende wächst
In Frankreich waren beim zweiten Aktionstag gegen die Rentenreform viele auf der Straße
Dem Aufruf zum zweiten Streik- und Aktionstag gegen die Rentenreform der Regierung am Dienstag sind ersten Eindrücken zufolge nicht ganz so viele Menschen gefolgt wie in der Woche zuvor.
Allerdings: Hatten am ersten Aktionstag vor allem Beschäftigte im Öffentlichen Dienst und in den Staatsbetrieben gestreikt, sind am Dienstag auch viele Streikende in Privatbetrieben hinzugekommen, auch wenn diese mitunter nur für Stunden die Arbeit niedergelegt haben. Oft geht die Unzufriedenheit über das Thema Rentenreform hinaus und betrifft die gesamte Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung.
Trotz der Behinderungen vor allem im Berufsverkehr durch den schon sechs Tage anhaltenden Streik bei der Staatsbahn SNCF und den Pariser Verkehrsbetrieben RATP ist die Zustimmung in der Bevölkerung seit Beginn der Aktionen noch gestiegen. Während Umfragen der Sonntagszeitung Journal du Dimanche vom 1. Dezember zufolge 46 Prozent der Franzosen »Verständnis und Unterstützung« bekundeten, waren es am 8. Dezember 53 Prozent.
Am ersten Streiktag hatten nach Angaben des Innenministeriums landesweit 806 000 Menschen demonstriert und allein in Paris 65 000, während die Gewerkschaft CGT insgesamt 1,5 Millionen Demonstranten gezählt haben will, davon 250 000 in Paris.
Zeitgleich mit dem Aktionstag haben am Dienstag in den öffentlichen Krankenhäusern die »Internes« - Medizinstudenten, die nach ihrem sechsten Studienjahr und vor dem Abschlussexamen ein mehrjähriges klinisches Praktikum absolvieren - einen unbefristeten Streik begonnen. Auch sie lehnen die Rentenreform ab, doch vor allem protestieren sie gegen ihre systematische Ausbeutung im Gesundheitswesen. Ihrer Organisation ISNI zufolge arbeiten sie im Schnitt 56 Stunden pro Woche und erhalten nur einen Bruchteil der Bezahlung der fest angestellten Ärzte.
Einige von ihnen haben im weißen Kittel an der zentrale Demonstration des Tages teilgenommen, die in Paris vom Invaliden-Dom zum Denfert-Rochereau-Platz führte. Der Protest vereinte Beschäftigte der verschiedensten Branchen und Berufe, die alle fürchten, dass die Rentenreform der Regierung eine Verschlechterung ihrer Lage bringt.
Der Lehrer Jean-Pierre N. verweist auf Hochrechnungen der Lehrergewerkschaft UNSA, wonach die Rentenreform eine Kürzung ihrer Rente um 600 bis 1000 Euro bedeuten würde. Die französischen Lehrergehälter gehören zu den niedrigsten in Westeuropa und sind im Schnitt nur halb so hoch sind wie die der deutschen Kollegen, die dagegen besser ausgestattete Rente gilt für viele als Kompensation dafür. Dass die Regierung nun die Gehälter stufenweise anheben will, hat die Wellen des Unmuts nicht geglättet. »300 Euro sollen wir jetzt mehr bekommen«, sagt Jean-Pierre. »Ich dachte erst: im Monat. Doch nein, 300 Euro im Jahr. Das ist doch ein Hohn!«
Olivier C. arbeitet als Metrofahrer bei den Pariser Verkehrsbetrieben RATP und ist besonders empört über die Versuche der Regierung, die breite Öffentlichkeit gegen die arbeitenden Franzosen auszuspielen, die einem der 42 Sonderrentenregime angehören. Diese sollen durch die Reform abgeschafft und in ein einheitliches System überführt werden. »Dass unser System vorsieht, dass wir mit 55 Jahren in Rente gehen können und nicht mit 63, wie die meisten Franzosen, ist doch kein Privileg, sondern ein Ausgleich dafür, dass wir ein Leben lang gearbeitet haben, wenn andere bei ihren Familien waren - ganz früh am Morgen oder spät am Abend, an Wochenenden oder an Feiertagen«, erklärt er.
Von den verschiedenen Teilzugeständnissen und Nachbesserungen der Rentenreform, die Regierungspolitiker in den vergangenen Tagen angekündigt haben, wollen die CGT, Force Ouvrière, SUD und die anderen kämpferischen Gewerkschaften, die zu den Streiks, Demonstrationen und anderen Aktionen aufgerufen haben, nichts wissen. Auch von der für Mittwoch angekündigten Rede von Premierminister Edouard Philippe, der die bisher erst in Grundzügen bekannte Reform präzisieren und erläutern will, erwarten sie nicht viel.
Die CGT, Force Ouvrière, SUD und die anderen Gewerkschaften an ihrer Seite lehnen die Rentenreform prinzipiell ab und wollen notfalls über die Feiertage und bis ins nächste Jahr hinein weiterstreiken, bis sie durch die Regierung zurückgezogen wird.
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