Labours späte Aufholjagd

Während die Tories nur den Brexit als Thema haben, gewinnen die Sozialdemokraten mit sozialen Themen an Boden

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Zum Schluss waren sie wieder da, die Szenen, die man aus dem letzten Wahlkampf kennt. Vor Tausenden jubelnden Anhängern trat Labour-Chef Jeremy Corbyn am Montag in Bristol auf, am gleichen Tag waren im Londoner Stadtteil Putney mehrere Hundert Aktivisten für die Labour-Partei unterwegs. Auf der Schlussstrecke des sechswöchigen Wahlkampfs ging Labour noch mal in die Offensive - während Boris Johnson in Bedrängnis geriet: Die Notlage im Gesundheitsdienst sorgte für Schlagzeilen, aber der Premierminister zeigte sich kaltherzig und gefühllos. Ein TV-Interview, in dem er sich weigerte, einen Blick auf ein Bild aus einem überfüllten Krankenhaus zu werfen, wurde millionenfach angeschaut.

So haben sich bei Labour doch noch Hoffnungen breitgemacht, dass die Opposition den Wahlkampf drehen kann - so wie 2017. Auch damals vermochte Corbyn Begeisterung auszulösen, während die Tory-Premierministerin Theresa May mit hölzernem Auftreten für Konsternation sorgte. Am Ende schaffte Labour die Sensation und gewann Dutzende Sitze hinzu, während die Konservativen ihre Mehrheit verloren.

Und tatsächlich: Hatte die letzte große auf die einzelnen Wahlkreise bezogenen Umfrage noch einen deutlichen Vorsprung der Konservativen prognostiziert - auf 339 Abgeordnete für die Tories, 231 für Labour, 41 für die Scottish National Party (SNP) 15 für die Liberaldemokraten - so könnte sich das Blatt noch wenden. Laut einer am Dienstag veröffentlichten Umfrage des Instituts YouGov ist der bis dahin komfortable Vorsprung von Johnsons Tories seit Ende November um 20 Mandate geschrumpft. Nun scheint sogar eine Koalition aus Labour, den pro-europäischen Liberaldemokraten und der SNP möglich. Die würde dann wohl ein zweites Brexit-Referendum ansetzen.

Lange sah es kaum danach aus, als schaffe Labour erneut eine Überraschung: Hartnäckig hielt sich der Vorsprung der Tories, genauso wie auch die persönlichen Zustimmungswerte Johnsons gegenüber Corbyn. Zu den entscheidenden Gründen zählt der Brexit: Beim Referendum über den EU-Austritt 2016 hat sich der 70 Jahre alte Corbyn für den Verbleib in der Staatengemeinschaft ausgesprochen, aber nur zaghaft für seine Position geworben. Bis heute hat er sich nie klar für oder gegen den Brexit positioniert, was sowohl Brexit-Beführworter als auch Gegner abstößt. Johnson hingegen hat es geschafft, sich als entschlossener Fürsprecher des Brexits zu inszenieren und sichert sich so die Unterstützung vieler Brexit-Anhänger.

Das konservative Wahlprogramm geht kaum über dieses eine Versprechen hinaus, den Brexit unter allen Umständen umzusetzen. Aber in den vergangenen Wochen wurde auch offensichtlich, dass dieser Strategie Grenzen gesetzt sind. In TV-Auftritten reagierten die Zuschauer wiederholt mit Gelächter und müdem Stöhnen, als Johnson jede Frage so drehte, dass die Antwort »Brexit« irgendwie passte.

Corbyn könnte der zweite Platz reichen
Boris Johnson und seine Konservativen haben vor der Unterhauswahl viele Trümpfe in ihrer Hand, doch keinen möglichen Koalitionspartner

So waren die Tories in einer schwachen Position, als die Krise im Gesundheitsdienst in den vergangenen Wochen verstärkt Schlagzeilen machte - so wie jeden Winter, wenn der klamme Nationale Gesundheitsdienst NHS mit dem stärkeren Andrang in den Notaufnahmen kämpft. Labour hingegen prangert die Unterfinanzierung im Gesundheitsdienst seit Jahren an, und eine Finanzspritze für den NHS zählt zu den zentralen Versprechen in ihrem Wahlprogramm. Darüber hinaus setzt Corbyn auf eine starke Erhöhung der staatlichen Ausgaben in verschiedenen Sektoren: Ausbau der Infrastruktur, Vergemeinschaftung der Versorgungsunternehmen, grüner Umbau der Industrie, Verstaatlichung der Eisenbahn und der Post, Linderung der Wohnungsnot und Bildung. Bei seinem Wahlkampfauftakt drohte Corbyn: »Wir werden den Steuerhinterziehern auf den Leib rücken, den skrupellosen Vermietern, den schlechten Chefs.«

Das kommt bei vielen Leuten an - und je länger der Wahlkampf dauert, desto mehr trat die soziale Frage in Konkurrenz zum Brexit als wichtigstes Thema der Kampagne. Dazu haben die Tausenden Aktivistinnen und Aktivisten den entscheidenden Beitrag geleistet: Täglich sind sie von Tür zu Tür gegangen - im Regen, in der Dunkelheit und in der bitteren Kälte. Viele Wahlkreise wurden regelrecht überflutet mit enthusiastischen Parteigängern. Manche Aktivisten gaben allerdings zu bedenken, dass es gerade in jenen Regionen, wo Labour in Gefahr ist, Sitze zu verlieren, nicht so viele Wahlkämpfer auftauchten wie in manchen sicheren Labour-Sitzen. Die Befürchtung ist, dass die Labour-Hochburgen im Norden Englands wegen der EU-kritischen Haltung vieler Wähler langsam bröckeln.

Sicher ist hingegen, dass junge Wählerinnen und Wähler wie schon 2017 einen großen Einfluss auf das Ergebnis haben werden - und die wählen vor allem Labour. Auch die Prominenz hat Labour unter die Arme gegriffen: Dutzende Musiker und Kulturschaffende haben für Corbyn Partei ergriffen, darunter Grime-Superstar Stormzy, die Band Massive Attack, Regisseur Stephen Frears und Schauspieler Steve Coogan.

Niemand möchte mit Sicherheit sagen, dass Corbyn den Wahlkampf am Ende noch dreht. Aber noch nie waren Wahlprognosen so schwer wie in diesen konfusen Zeiten.

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