- OXI
- umfassende Pflegeversicherung
Eine Sorge weniger
Benjamin W. Veghte über eine verbindliche und umfassende Pflegeversicherung, wie sie in den USA diskutiert wird
Was halten Sie persönlich für den wichtigsten Aspekt einer universellen Familien-Vorsorgeversicherung wie UFC?
Dass es den Menschen helfen würde, die sich um ihre Angehörigen kümmern und damit heute oft allein gelassen werden. Sie bekämen durch UFC eine Art Werkzeugkasten, um ihre Care-Aufgaben besser mit ihrer Lohnarbeit vereinbaren zu können. Gleichzeitig sorgt unser Konzept dafür, dass die professionellen Kräfte in allen Care-Bereichen zu vernünftigen Bedingungen arbeiten. In Europa gibt es einige Systeme, die zwar die Pflegebedürftigen ganz gut versorgen und die Angehörigen dadurch entlasten, aber die Pflegekräfte sind weiter unterbezahlt und arbeiten zu extrem schlechten Konditionen.
Welche Probleme sehen Sie bei den hier existierenden Systemen wie dem Elterngeld oder der Pflegeversicherung?
Die professionellen Pflegekräfte im Privathaushalt sind im deutschen System der blinde Fleck. Ihnen werden nicht die gleichen Rechte und Teilhabechancen eingeräumt, wie den Nutznießern der Pflegeleistungen, beziehungsweise den pflegenden Angehörigen. Die Beschäftigten im Pflegebereich, vor allem wenn sie in Privathaushalten arbeiten, sind gewissermaßen die Leidtragenden des deutschen Systems. Für sie gilt kein Mindestlohn und die deutschen Gewerkschaften kümmern sich auch nicht besonders gut um sie. UFC ist das erste System mit einem wirklich ganzheitlichen Ansatz.
Worin besteht dieser ganzheitliche Ansatz genau?
Wenn Sie sich beispielsweise um ihre alte, demente Mutter kümmern wollen, müssen Sie einerseits gucken, ob sie bei ihrer Arbeit Pflegezeit beantragen können. Dann müssen Sie an einer anderen Stelle im Namen ihrer Mutter den Antrag für Pflegegeld stellen, und wenn Sie gleichzeitig ein Kind haben, füllen Sie auch noch einen dritten Antrag für Elterngeld und Elternzeit aus, und dann wieder einen für den Kita-Platz – das kostet enorm viel Zeit und Nerven. Bei unserem Versicherungsprogramm dagegen kommen alle Leistungen aus einer Hand und man kann sie in einem Antrag abrufen. Damit lassen sich auch die Übergänge, sagen wir zwischen Elternzeit und Kita-Platz, nahtlos regeln.
Der überwiegende Teil der in Privathaushalten Beschäftigten in den USA wie anderswo arbeitet ohne Vertrag und damit per se vollkommen ungeschützt. Könnte UFC daran etwas ändern?
Ja, wenn die Empfänger kein Geld bekommen, sondern Sachleistungen oder Gutscheine, die sie nur bei bestimmten zertifizierten Anbietern einlösen können. Das wäre ein extrem guter Anreiz für ordentliche Beschäftigungsverhältnisse, also sozialversicherungspflichtig, mit angemessenem Lohn. Selbstverständlich haben auch diese Beschäftigten Anspruch auf Eltern- oder Pflegezeiten, denn bei UFC zahlen ja alle in das System ein und können deshalb auch dessen Leistungen in Anspruch nehmen.
Wie ist die Idee entstanden, ein solches Konzept zu entwickeln?
Ai-jen Poo, die Gründerin der NDWA, bemerkte im Zuge ihrer Arbeit, dass in verschiedenen US-Bundesstaaten starke Initiativen für bessere Kinderbetreuung existierten. Denn Anspruch auf einen Kita-Platz hat man in den USA bisher nur, wenn man sehr wenig verdient, und die Qualität der Einrichtungen variiert stark. Gleichzeitig gibt es Leute, die sich für eine bessere Versorgung von Menschen mit Behinderung einsetzen und wieder andere kämpfen für bessere Altenpflege und für bezahlte Pflege-Auszeiten beim Arbeitgeber. Die NDWA selbst will bessere Arbeitsbedingungen für die Care-Beschäftigten. All diese Gruppen konkurrieren zur Zeit um die gleichen unzureichenden Finanzmittel. Dadurch wurde klar, dass man an der Finanzierung ansetzen muss, und dort mit vereinten Kräften für einen Systemwechsel kämpfen, dann lassen sich all die anderen Ziele besser verwirklichen.
Wieso glauben Sie diesen Systemwechsel ausgerechnet in den neoliberal geprägten USA durchsetzen zu können, wo bisher jeder Versuch einer allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung gescheitert ist?
Bei der Auseinandersetzung um die Krankenversicherung spielen die großen Versicherungskonzerne eine zentrale Rolle. Sie würden viel Geld verlieren, wenn es eine allgemeine gesetzliche Alternative gäbe, und entsprechend blockiert diese Lobby Veränderungen, wo sie nur kann. Beim Thema Pflege ist die Situation anders: Es gibt schlicht keine nennenswerten privaten Anbieter, die irgendetwas zu verlieren hätten. Einige wenige Versicherungen bieten Produkte für den Fall einer Behinderung an, die sich aber nur sehr Wohlhabende leisten können. Für den Bereich bezahlter Pflege- oder Kindererziehungszeiten existiert bisher nichts. Der gesamte Sektor der freiwilligen privaten Pflegeversicherung für ältere Menschen leidet an Unterfinanzierung, weil den allermeisten Leuten entweder das Geld fehlt oder sie nicht rechtzeitig genug über das Thema nachdenken oder beides. Einige Versicherungskonzerne unterstützen deshalb sogar UFC, denn dann könnten sie sogenannte Premiumprodukte anbieten, Zusatzleistungen, die durch das gesetzliche Angebot nicht abgedeckt wären. Ich bin überzeugt: In den USA kommt UFC eher als eine gesetzliche Krankenversicherung.
Gibt es schon Politiker oder einzelne Bundesstaaten, die ihr Vorhaben unterstützen?
Wir arbeiten mir vielen Fachpolitikern aus fast allen Bundesstaaten zusammen, die an diesem Konzept Interesse haben. Der Staat Washington zum Beispiel hat im vergangenen Jahr ein Sozialversicherungs-Gesetz erlassen, das bezahlten Sonderurlaub aus gesundheitlichen Gründen ermöglicht, und in diesem Jahre eines, das Pflegezeiten für Angehörige regelt. Bei der Umsetzung dieser Gesetze fällt vielen auf, dass es viel effektiver wäre, diese Programme zu verbinden. Ich bin sicher, diese Einsicht wird auch in anderen Staaten und auf der Bundesebene in den nächsten Jahren wachsen. Wir müssen die Politik an die gewandelte Realität anpassen: Care gehört zur Lebenswirklichkeit von fast allen Menschen und UFC gibt ihnen die Möglichkeit, genau den Mix aus familiärer Unterstützung und professioneller Care-Arbeit zusammenzustellen, der zu ihrer jeweiligen Situation am besten passt.
Sigrun Matthiesen sprach mit Benjamin W. Veghte, der als Forschungsdirektor von Caring Across Generations maßgeblich an dem Konzept des »Universal Family Care« beteiligt war. Er ist ehemaliger Vizepräsident der US-amerikanischen Nationalen Sozialversicherungsakademie und forscht zu der Frage, wie kapitalistische Demokratien soziale Ungerechtigkeit besser ausgleichen können, und hat einen Doktortitel in europäischer Geistesgeschichte. Nach seiner Doktorarbeit lehrte er vergleichende Sozialpolitik an der Universität. Weitere Informationen und das vollständige Konzept (in englischer Sprache): caringacross.org
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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