Sinti und Roma mahnen

In Gedenkstätte Sachsenhausen wurde an Himmlers »Auschwitz-Erlass« von 1942 erinnert

  • Tomas Morgenstern
  • Lesedauer: 4 Min.

Es war einer jener Momente, der aus offiziellen Gedenkveranstaltungen so ergreifende Ereignisse macht: Als all die bedeutsamen Reden, die mahnenden Worte bereits gesprochen und die Kränze niedergelegt waren, da verharrte eine elegante ältere Dame vor den Blumengebinden. Sanft berührte sie die vom DDR-Bildhauer Waldemar Grzimek geschaffene Plastikengruppe und wandte sie sich an die erstaunt zu ihr aufschauenden Gäste.

Es war die 79-jährige Ilona Strauss-Dreißig, die sich gerade an diesem Ort auf dem Gelände des ehemaligen NS-Konzentrationslagers Sachsenhausen an ihren Vater erinnert fühlte, den die SS - wie so viele andere Sinti und Roma - in die Hölle von Dachau und später Sachsenhausen verschleppt hatte. Wie durch ein Wunder hatte er überlebt. Sie richtete an die heute heranwachsende Generation die hoffnungsvolle Aufforderung, gerade jetzt, fast 75 Jahre nach dem Ende des Grauens, Freiheit und Demokratie zu verteidigen. »Wählt unsere demokratischen Parteien, denn nur sie können unsere Demokratie bewahren«, rief sie. Sie könne nicht anders, sie müsse das an Orten wie diesem sagen.

Am Donnerstag erinnerte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mit einer Gedenkveranstaltung in der Gedenkstätte Sachsenhausen an die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma. Anlass war der 77. Jahrestag der Unterzeichnung des »Auschwitz-Erlasses« durch Heinrich Himmler am 16. Dezember 1942. Damit hatte der »Reichsführer SS« die Deportation aller in Deutschland lebenden Sinti und Roma, also kompletter Familien, in Konzentrationslager mit dem Ziel ihrer Vernichtung angeordnet. »Porajmos« lautet das Romanes-Wort für den Völkermord an den europäischen Roma in der Zeit des Nationalsozialismus. Von fast 40 000 in Deutschland und Österreich damals erfassten Sinti und Roma fanden rund 25 000 den Tod, in ganz Europa wurden bis zu einer halben Million ermordet.

Nach Sachsenhausen kamen insgesamt rund 1000 Sinti und Roma, eingepfercht zumeist in die berüchtigte Baracke 38 und ausgebeutet im brutalsten Arbeitskommando, dem »Klinkerwerk«. Die Gedenkveranstaltung mit Kranzniederlegung fand auf dem Gelände der ehemaligen »Station Z« statt. So hatte die SS das Gebäude genannt, das Krematorium und Vernichtungsort zugleich war. »Z« stand als letzter Buchstabe des Alphabets zynisch für die letzte Station im Leben der Häftlinge. Hier befanden sich vier Krematoriumsöfen, eine Gaskammer und ein Erschießungsbereich. Am Gedenken nahmen auch acht KZ-Überlebende, Angehörige und Vorstände der Landesverbände des Zentralrats teil. Mit Dank und Anerkennung begrüßte hier Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Brandenburgs Ministerpräsidenten Dietmar Woidke (SPD). »Es ist ein wichtiges Signal, dass Sie in schwierigen Zeiten hier mit uns sind«, sagte Rose.

Wer mit offenen Sinnen nach Sachsenhausen kommt, das einstige Lagertor mit der zynischen Botschaft »Arbeit macht frei« passiert, dem legt sich vielleicht auch eine schwere Last auf Schultern und Brust. Das ab 1936 errichtete Konzentrationslager war ein Ort des Schreckens und des Todes. Mehr als 200 000 Menschen waren hier unter den irrwitzigsten Vorwänden inhaftiert und fürchterlichen Torturen ausgesetzt. Zehntausende Häftlinge ermordete die SS zunächst willkürlich, dann systematisch, darunter 13 000 sowjetische Kriegsgefangene. Viele starben durch Folter, bei medizinischen Versuchen, durch Krankheit, Unterernährung, Zwangsarbeit.

Ministerpräsident Woidke mahnte eine Erinnerungskultur für die von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma und mehr Wissen um die Vergangenheit an. »Über Jahrzehnte wurden die Verbrechen an Sinti und Roma verdrängt oder verharmlost«, erklärte er. Man müsse jeder Form der Geschichtsfälschung entgegentreten, sie sei stets eine Gefahr für die Freiheit. »Nie wieder darf von Deutschland aus eine Gefahr für Sinti und Roma, für Jüdinnen und Juden, für alle vom Naziregime Verfolgten ausgehen.« Man müsse Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz eine klare Grenze setzen.

Voller Bitterkeit verwies Romani Rose auf das Wiederaufkommen von »völkischem Denkens« auch in der Mitte der Gesellschaft und zunehmende Übergriffe auch auf Sinti und Roma in Deutschland. »Der zunehmend gewaltbereite Antisemitismus wie der Antiziganismus, mit denen wir in Deutschland und in ganz Europa wieder konfrontiert sind, richten sich vordergründig gegen Minderheiten, im Kern aber auf die Zerstörung unserer Demokratie in Deutschland und in Europa«, erklärte er. »Die Erinnerung an die Verbrechen des Holocaust alleine reicht nicht aus, wir müssen in unserer Gesellschaft Verantwortung für die Gegenwart übernehmen.«

Stiftungsdirektor Axel Drecoll erinnerte an die lange Vorgeschichte von Diffamierung, Diskriminierung und Verfolgung der Sinti und Roma in Deutschland. Während der NS-Herrschaft sei dagegen kaum Widerspruch aus der Bevölkerung laut geworden. Am Schicksal des Sinto Rudolf Atsch, geboren 1906 in Lüttich, verdeutlichte er, wohin Rassenhass führt. Im März 1940 war Atsch ins KZ Sachsenhausen deportiert, sofort brutalsten Misshandlungen ausgesetzt und in »Isolationshaft« genommen worden. Wenige Tage später hatten ihn seine Peiniger - SS-Rapportführer Gustav Sorge und Blockführer Fritz Flicker - im Waschraum ertränkt, lange vor dem »Auschwitz-Erlass«. »Wir müssen aufklären und insbesondere die Erinnerung an das Leid, die Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma und an individuelle Schicksale wie das von Rudolf Atsch wachhalten.«

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