- Politik
- Lager in Griechenland
Die Aufnahme von 4000 Kindern würde uns nicht überfordern
Die Landesregierungen von Thüringen, Berlin, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Niedersachen signalisieren Aufnahmebereitschaft
Berlin. Kirchen, Politiker und Sozialverbände haben vor Weihnachten die Aufnahme von Flüchtlingskindern aus überfüllten Lagern in Griechenland gefordert. Das rot-rot-grün regierte Thüringen überlegt auch den Alleingang in der Frage. Die Bundesregierung lehnt eine einseitige humanitäre Geste aber ab: Für das Problem müsse eine europäische Lösung gefunden werden, sagte Vizeregierungssprecherin Ulrike Demmer am Montag in Berlin. Das Bundesinnenministerium verwies darauf, dass für die Kinder - anders als etwa bei der Seenotrettung - »keine unmittelbare Lebensgefahr« bestehe.
»Menschlichkeit sollten wir nicht nur zur Weihnachtszeit beweisen. Aber wenn Menschen und vor allem Kinder in Not sind, dann dürfen wir nicht wegsehen«, teilte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (LINKE) am Montag über den Kurznachrichtendienst Twitter mit. Thüringen stehe bereit zu helfen und habe gute Voraussetzungen dafür. Es sei aber am Bund, sich zu bewegen, betonte Ramelow.
Thüringen will minderjährige Flüchtlinge ohne Angehörige aus überfüllten griechischen Lagern notfalls auch im Alleingang aufnehmen. Die von Thüringen bevorzugte Lösung sei zwar eine Hilfsaktion in der Regie des Bundesinnenministeriums, sagte ein Sprecher des Bildungsministeriums in Erfurt der Deutschen Presse-Agentur am Montag. Wenn es dazu aber nicht komme, wolle Thüringen selbst helfen. Derzeit liefen Absprachen zwischen dem Bildungs- und Migrationsministerium, hieß es.
Mit Außenstaatsminister Michael Roth (SPD) sprach sich aber auch ein Vertreter der Bundesregierung für die Aufnahme von Flüchtlingskindern aus. »Zeigen wir endlich mehr Humanität und Solidarität, nicht nur zur Weihnachtszeit«, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. SPD-Chefin Saskia Esken sagte der »Rheinischen Post«: »Wir müssen die Situation vor Ort verbessern, aber auch die Aufnahme von geflüchteten Menschen in anderen Mitgliedsstaaten ermöglichen.«
Grünen-Chef Robert Habeck hatte am Wochenende den Ruf seiner Partei nach einer humanitären Geste wiederholt. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) nannte die Forderung nach einer Aufnahme dagegen »unredliche Politik«. Seehofer sagte der »Süddeutschen Zeitung«, er warne seit Monaten vor einer neuen »Flüchtlingswelle«, sei aber von vielen nicht ernst genommen worden. Habeck komme »zu diesem durchschaubaren Zeitpunkt mit diesem nicht hilfreichen Vorschlag«, sagte Seehofer.
Aufnahmebereitschaft zeigte neben Thüringen und Berlin auch Rheinland-Pfalz. »Sollte die Bundesregierung sich für ein Aufnahmeprogramm entscheiden, wird Rheinland-Pfalz seinen Teil selbstverständlich übernehmen«, erklärte die rheinland-pfälzische Integrationsministerin Anne Spiegel (Grüne). »Die Zustände in den überfüllten Flüchtlingslagern Griechenlands sind katastrophal«, betonte Spiegel am Montag in Mainz. »Rund 40.000 Flüchtlinge harren bei Regen und Kälte in überfüllten Zelten aus.« Unter dieser Situation litten Frauen und Kinder besonders.
Neben Thüringen und Rheinland-Pfalz steht Berlin zu seinem Angebot, bis zu 70 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufzunehmen. Das teilte ein Sprecher der Senatsverwaltung für Inneres am Montag mit. Schon Anfang Dezember hatte Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) zusammen mit seinen Ressortkollegen aus Niedersachsen und Thüringen in einem Brief an Bundesinnenminister Seehofer auf die humanitäre Notlage auf den griechischen Inseln hingewiesen und die Hilfe der drei Länder zur Aufnahme von unbegleiteten Minderjährigen angeboten.
Ihnen erscheine »ein mit Augenmaß initiiertes Sofortprogramm nicht nur machbar, sondern als klares Signal an Europa, dass die solidarische Übernahme von Verantwortung möglich ist, auch angezeigt«, heißt es in dem Schreiben, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt.
Bei in Italien ankommenden Flüchtlingsschiffen hatte es in der Vergangenheit regelmäßig zeitnah auf Ebene der EU-Kommission eine Verständigung darüber gegeben, welches Land die Flüchtlinge aufnimmt. Solche Gespräche gibt es nach Worten des Ministeriumssprechers angesichts der Lage auf den griechischen Inseln derzeit aber nicht.
Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR leben in Lagern auf den Inseln Lesbos, Samos und Kos mehr als 4.400 unbegleitete Kinder, »von denen nur jedes vierte altersgerecht untergebracht ist«.
Auch aus Baden-Württemberg wurde erneut Aufnahmebereitschaft signalisiert. »Wenn sich jedoch die Bundesregierung dazu entschließen würde, wäre Baden-Württemberg bereit, Kinder aufzunehmen«, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) der »Stuttgarter Zeitung«. »Die Situation auf den griechischen Inseln ist unerträglich.« Ähnlich hatte er sich vor rund zwei Wochen bereits vor Journalisten geäußert. Es sei allerdings Angelegenheit der Bundesregierung, ein Sonderkontingent der Länder zu bestimmen.
Vertreter der evangelischen Kirche schlossen sich der Forderung der Grünen an. Es sei »Zeit, humanitäre Zeichen zu setzen«, sagte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, im Bayerischen Rundfunk. Die unbegleiteten Kinder brauchten jetzt Hilfe, erklärte Diakonie-Präsident Ulrich Lilie: »Gerade an Weihnachten wäre dies ein Zeichen der Hoffnung und ein Ausdruck elementarer europäischer und christlicher Werte.«
Lesen Sie auch: Merkel drückt sich um klare Antwort - Die Kanzlerin verweigert eine Zusage zur Notaufnahme von Menschen aus Griechenland
Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, sagte der »Passauer Neuen Presse«, die Situation sei nicht nur in den Lagern Griechenlands katastrophal. Die »europäische Gleichgültigkeit in der Flüchtlingsfrage« könne insgesamt nicht so bleiben.
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie bezeichnete die Aufnahme der Flüchtlingskinder als machbar: »Die Aufnahme von 4000 Kindern und Jugendlichen würde weder die deutschen und erst recht nicht die europäischen Möglichkeiten überfordern.« Agenturen/nd
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.