- Politik
- Polizeigesetze
Schwere Eingriffe in die Grundrechte
Trotz Protesten konnten die Polizeirechtsverschärfungen bislang nicht gestoppt werden
Der Trend in Richtung eines präventiven Sicherheitsstaats ist nicht neu: Schon seit 9/11 befindet sich die Polizei in Bund und Ländern im Zuge einer ausufernden Sicherheits- und Antiterrorpolitik in einem tief greifenden Strukturwandel. Vorverlagerung präventiver Polizeiaufgaben, Ausbau geheimer Polizeibefugnisse, Vernetzung und Überwindung der Grenzen zwischen Polizei und Geheimdiensten sind die kennzeichnenden Stichworte. Dieser Trend einer strukturellen Entgrenzung polizeilicher Aufgaben und Befugnisse geht einher mit einem starken Ausbau staatlicher Kontrolldichte und einem Zuwachs an Polizeimacht.
Und seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche Ende 2016 überschlagen sich die Aufrüstungsforderungen in Bund und Ländern noch - obwohl doch gerade hier eklatante Fehleinschätzungen und Vollzugsdefizite der Sicherheitsbehörden zutage traten. Statt einer überfälligen Evaluierung bislang angehäufter Sicherheitsgesetze und ihrer Umsetzung - und einer Nachjustierung, wo nötig - wurden 2018/19 mit einer Welle von Polizeirechtsverschärfungen in Bund und Ländern gravierende Befugniserweiterungen durchgesetzt: so der Ausbau staatlicher Videoüberwachung im öffentlichen Raum, Aufrüstung der Polizei mit Bodycams und gefährlichen Elektroschockern (Taser), Einführung »elektronischer Fußfesseln« zur Aufenthaltskontrolle mutmaßlicher »Gefährder«, Ausweitung der Präventivhaft sowie Einschleusung von Staatstrojanern in Computer und Smartphones zur Ausforschung potenziell verdächtiger Personen.
Mit der nun gesetzlich zulässigen Onlinedurchsuchung per Staatstrojaner bricht der Staat unter relativ vagen Eingriffsvoraussetzungen massiv in Privat- und Intimsphäre, Persönlichkeitsrechte und informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen ein. Mithilfe heimlich installierter Staatstrojaner kann die Polizei auf Telekommunikation, gespeicherte Festplatteninhalte, intimste Informationen, Fotos und Filme zugreifen. Es handelt sich um einen schweren Grundrechtseingriff, einen Einbruch in alle Lebensbereiche bis hinein in Gedanken- und Gefühlswelten der Betroffenen und ihrer Kontaktpersonen, aber auch von unbeteiligten Dritten. Staatstrojaner, die über Sicherheitslücken in Software eingeschleust werden, öffnen darüber hinaus Missbrauch und gefährlichen Cyberattacken Tür und Tor: So unterminieren sie das »Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität von IT-Systemen«, denn die Polizei nutzt Sicherheitslücken, anstatt sie sofort zu schließen. So gerät kritische Infrastruktur - etwa der Energieversorgung, des Krankenhaus-, Gesundheits- oder Verkehrswesens - in höchste Gefahr und damit der Schutz der Allgemeinheit.
Mit den neuen Präventionsbefugnissen können sogenannte Gefährder Aufenthalts- und Kontaktverboten unterzogen und in elektronische Fußfesseln gelegt werden, um ihr Verhalten über GPS polizeilich zu überwachen. So lassen sich lückenlose Bewegungsprofile erstellen und Rückschlüsse ziehen auf die persönliche Lebensführung.
Diese Vorfeldmaßnahme kann gegen Menschen verhängt werden, die nicht straffällig geworden sind, denen dies aber künftig polizeilicherseits zugetraut wird - aufgrund bloßer Indizien und Annahmen, möglicher oder unterstellter Absichten, Gesinnung oder Verhaltensweisen. Das ist willküranfällig und verletzt den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit. Denn die wochen- oder monatelange Rundumüberwachung schränkt die Betroffenen in ihrer Handlungs- und Bewegungsfreiheit ein, verletzt ihre Privatsphäre, Persönlichkeitsrechte und auch ihre Menschenwürde.
Außerdem sollen solche »Gefährder« - die ja prinzipiell als unschuldig zu gelten haben - zur Verhütung möglicher Straftaten in polizeiliche Präventivhaft gesperrt werden können - mit richterlicher Anordnung bis zu 35 Tage, wie etwa in Niedersachsen oder ohne zeitliches Limit, wie in Bayern. All dies auf bloßen Verdacht hin, ohne Anklage, ohne Prozess und Urteil.
Mit diesen Gesetzesverschärfungen haben Bund und Länder einen weiteren, verfassungsrechtlich hoch problematischen Schritt in Richtung präventiv-autoritärer Sicherheitsstaat zurückgelegt - unter Ausbau des Überwachungspotenzials, das demokratisch kaum noch kontrollierbar ist, das die Grund- und Freiheitsrechte massiv beschränkt und auch Unbeteiligte und die Gesellschaft nicht verschont.
Mit der präventiven Vorverlagerung von Polizeiaufgaben und geheimer Befugnisse weit ins Vorfeld eines Verdachts oder einer möglichen Gefahr verkehren sich die Beziehungen zwischen Bürger und Staat: Die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, verliert ihre Staatsmacht begrenzende Funktion. Der Mensch mutiert zum potenziellen Sicherheitsrisiko, der letztlich unter Umkehr der Beweislast seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muss.
Es dürfte zu bezweifeln sein, dass mit den neuen Polizeieingriffen mehr Sicherheit vor Gewalt, Amok und Terror geschaffen werden kann. Längst hat sich doch gezeigt, dass sich etwa Einzeltäter davon kaum abschrecken lassen. An der Wirksamkeit solcher Gesetze gibt es also berechtigte Zweifel - wohingegen deren verfassungs-, freiheits- und vertrauensschädigenden Auswirkungen so sicher sind wie das Amen in der Kirche. Im Übrigen: Gesetze mit tief greifenden Eingriffsbefugnissen gab es schon zuvor mehr als genug - Vollzugsdefizite und Unzulänglichkeiten leider auch, zumal die Polizei angesichts von Sparmaßnahmen und Personalmangel mit den ihr aufgebürdeten erweiterten Antiterror-Befugnissen längst überfordert ist.
Zwar lässt sich die Mehrheit der Bevölkerung durch unhaltbare Sicherheitsversprechen der Regierungspolitik immer wieder beschwichtigen - besser gesagt: hintergehen. Dennoch regten sich gegen die Gesetzesverschärfungen starke Kritik und heftiger Protest. Zehntausende gingen auf die Straße - Proteste, die von breiten zivilgesellschaftlichen Bündnissen unter Beteiligung zahlreicher Bürgerrechts- und Datenschutz-Organisationen getragen werden. Das jedenfalls lässt hoffen. Und mittlerweile eingereichte Verfassungsbeschwerden sorgen dafür, dass die neuen Regelungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft und vielleicht wieder gekippt werden. Nach bisherigen Erfahrungen sind die Aussichten dafür jedenfalls recht gut.
Dr. Rolf Gössner ist Anwalt, früherer stellvertretender Richter am Bremer Staatsgerichtshof und Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte. Zudem ist er Mitherausgeber des »Grundrechte-Reports« (Fischer-Taschenbuch) sowie Mitglied der Jury zur Vergabe des Negativpreises »BigBrotherAward«, Autor zahlreicher Publikationen zu Innerer Sicherheit, Bürgerrechten und Demokratie.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.