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Zeit zum Abschalten

Karl Geiger erwischt mit Platz zwei einen Traumstart bei der Vierschanzentournee, doch ein Japaner ist noch stärker

  • Lars Becker, Oberstdorf
  • Lesedauer: 4 Min.

Karl Geiger fuhr nach seinem zweiten Platz in der Heimat »mit einem breiten Grinsen« Richtung Garmisch-Partenkirchen. Nach seinem Traumstart bei der 68. Vierschanzentournee kann der Oberstdorfer vom ersten deutschen Gesamtsieg beim Grand Slam der Skispringer seit Sven Hannawalds Triumph vor 18 Jahren träumen. Am montäglichen Ruhetag wurden die Batterien für das zweite Duell gegen den japanischen Überflieger Ryoyu Kobayashi (Japan) aufgeladen, und Bundestrainer Stefan Horngacher hatte dafür im deutschen Team Faulenzen angeordnet.

»Wir werden mal gar nix machen und dann erst wieder die Maschinen Richtung Neujahrsspringen hochfahren. Der Start der Tournee ist immer extrem emotional«, begründete der Chefcoach die Maßnahme. Besonders viele Gefühle hatte natürlich Geiger nach dem ersten Tournee-Podestplatz seiner Karriere zu verdauen. Nur ein paar Minuten Fußmarsch von der Schattenbergschanze entfernt aufgewachsen, war der heute 26-Jährige schon als kleiner Junge Stammgast beim traditionellen Tournee-Auftakt. Jetzt dort als Zweiter auf dem Podest zu stehen, war einer der größten Momente seiner sportlichen Karriere.

Neben den vielen Umarmungen seiner begeisterten Eltern und zahlreicher Freunde blieb bei Karl Geiger vor allem das Gefühl, wieder eine ganz besondere Herausforderung auf dem Weg nach ganz oben bewältigt zu haben. »Wir haben viel mit Karl gearbeitet, damit er diese einmalige Situation bei seinem Heimspringen bewältigt. Im Gegensatz zum Teamsport Fußball gibt es beim Skispringen oft keinen Heimvorteil - du sitzt da mit all diesen Erwartungen oben auf der Schanze, und wenn du den Absprung verpasst, ist in Zehntelsekunden alles vorbei«, so Horngacher. Im vergangenen Jahr war Geigner in Oberstdorf an diesem Druck noch gescheitert, doch in diesem Winter scheint der Hoffnungsträger des deutschen Teams bereit für den großen Triumph. Auch dank mentaler Techniken (Markus Eisenbichler: »Der Karl versinkt gern mal komplett in sich selbst«) und Yoga.

Mit Oberstdorf hat Geiger die für ihn schwierigste Station bei dieser Tournee bereits hinter sich gebracht. Sein großer Konkurrent Ryoyu Kobayashi hat sie dagegen noch vor sich: Der Sieger aller Tourneespringen im vergangenen Winter hat beim Neujahrsspringen von Garmisch-Partenkirchen die Chance, mit seinem sechsten Tournee-Tagessieg in Folge einen geschichtsträchtigen Rekord aufzustellen. Dieses Kunststück ist in 67 Jahren noch keinem Skispringer gelungen: Die Deutschen Hellmut Recknagel (1957 bis 1959), Sven Hannawald (2001 bis 2002) sowie der Pole Kamil Stoch (2016 bis 2018) kassierten nach fünf Triumphen in Serie jeweils eine Niederlage.

»Wenn Kobayashi einen Fehler macht, wird Karl da sein«, versprach Bundestrainer Horngacher. Das Problem ist nur, dass ein Fehler des Japaners derzeit schwer vorstellbar ist. Beim Auftakt in Oberstdorf sprang Kobayashi, der nach einem kräftigen Absprung so schnell wie kein Zweiter in der perfekten Fluglage ist und deshalb mit maximaler Geschwindigkeit wie ein Pfeil zu Spitzenweiten fliegt, wieder in seiner eigenen Liga. 9,2 Punkte oder reichlich 5 Meter Vorsprung auf Geiger sind bei der Ausgeglichenheit in der Weltspitze schon ziemlich viel. Kobayashi gab nach dem perfekten Auftakt zu, schon wieder den Grand Slam im Hinterkopf zu haben - also die Wiederholung seines Sieges in allen vier Einzelspringen der Tournee.

Auf die Frage nach seinem Erfolgsgeheimnis antwortete Kobayashi in Oberstdorf mit einem Grinsen und den Worten: »Ich habe keine Ahnung.« Sein neuer österreichischer Heimtrainer Richard Schallert dagegen schon - neben seiner wirklich einmaligen Flugtechnik habe sein Schützling mit dem Spitznamen Roy den mentalen Vorteil, dass er perfekt abschalten könne: »Er denkt nicht 24 Stunden ans Skispringen.« Häufig versinke der Frauenschwarm Kobayashi dann in seiner eigenen Welt, in der schnelle Autos und stylishe Produkte die Hauptrolle spielen.

Auch der bodenständigere Karl Geiger schaltete am Ruhetag ab, während Trainer Horngacher schon dessen Siegchancen mit Blick auf die kommenden Tournee-Stationen in Garmisch-Partenkirchen (Neujahrstag), Innsbruck (4. Januar) und Bischofshofen (6. Januar) analysierte. »Die Schanze in Partenkirchen hat Karl ja bislang nicht so gemocht, aber beim Training im Herbst hat er Freundschaft mit ihr geschlossen. Damals ist er dort richtig gut gesprungen. Auf der Schanze von Innsbruck hat er vergangenen Winter bei der WM Silber im Einzel und Gold im Team gewonnen. Wenn Karl gut springt, ist die Schanze ohnehin egal.« Dann könne er an einem perfekten Tag selbst den großen Überflieger Kobayashi besiegen.

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