Das Mosaik der Lüste

Sich nach oben arbeiten in der Hochkultur und dabei auf dem Boden bleiben: Zum Tod des großen Opernregisseurs Harry Kupfer

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Man kann den Weltruf wie eine Kugel stemmen, atlasgleich, als trage man die ganze Erde, und jedes neue Wort vom (eigenen) Ruhm ist dann ein weiterer Muskel, der einem zuwächst. Bis man gleichsam gänzlich durch- und zugewachsen ist mit Kraft und Bedeutsamkeit.

Man kann den Weltruhm aber auch wie eine Kindermurmel hernehmen, wie ein Ding aus der Hosentasche der Kindheit. Man kann ab und zu das wahre Wort von der »harten Arbeit« einstreuen, um Missverständnissen vorzubeugen - aber dann trotzdem weiter so sehr leicht mit der Murmel Ruhm spielen, dass noch der Höhenflug gleichsam ein Nachbarschaftswesen bleibt. In der Hingabe ganz bei sich sein - für die leidenschaftliche Hinwendung zum Publikum. Sich nach oben arbeiten in der Hochkultur Oper, und dabei auf dem Boden bleiben: Harry Kupfer.

Er war der Bubenhafte, von weicher Art - dessen ausdauerndes Pfeiferauchen wie etwas wirkte, für das er noch im Alter zu jung schien. Jahrelang ging er aus seiner Hochhauswohnung in der Leipziger Straße zu seiner Arbeitsstätte Komische Oper, eingemeindet in die Morgenschar der Alltäglichen. Einer der großen deutschen Regisseure des Musiktheaters.

Kupfer, Mitglied mehrerer Kunstakademien, schuf über zweihundert Inszenierungen: Von Salzburg bis Sydney, von Stuttgart bis San Francisco, von Tokio bis Tel Aviv; ständig Salzburg, wieder und wieder Wien. Ob Wagner militär-metallisch in Bayreuth oder in der Staatsoper Unter den Linden, ob Schostakowitsch betörend böse in München, ob mehrfach Mussorgskis »Boris Godunow« als Machtkampf im Ikonenwald: Das Theater dieses erzählbesessenen Umtriebtäters schaute nie auf einen Stoff herab. Ob Elektra, Palestrina oder Lustige Witwe: nie auf eine Gestalt herab.

Ob Puccini oder Goldschmidt oder Penderecki oder Mozart (allein sechs Mal inszenierte er seine Lieblingsoper »Entführung aus dem Serail«): Immer schaute seine Spielerschaft singend, seine Sängerschaft spielend hinauf zu etwas Größerem. Unter dessen dramatisches Gesetz sie sich stellten. Von dem sie sich gleichsam prüfen ließen. Sich ihm zu nähern suchten. Hoch erhobenen Stimmenhauptes - aber durchaus mit bangem Herzen. Kupfer, in Geist und Gestus leidenschaftlich lernend bei Walter Felsenstein, hat das Singen nie bloß Dar-Stellung sein lassen, sondern es zur szenischen Dynamik geformt. Sein Regiebuch war die Partitur, nicht das Libretto. Sein Inszenieren kombinierte Melodiekurven mit körperlichen Bewegungen. Man erkannte ihn gar nicht so sehr am Stil. Immer an einer Haltung. Es war die Haltung des wahren Gläubigen: Er traut dem, was trägt.

Nicht mehr die Rampe war der Hauptort, sondern eine weite Bühne, gereinigt von Dekorsucht und bräsiger Opulenz. Bühnenbildner wie Reinhart Zimmermann und Hans Schavernoch wurden zu Kombattanten dieser Ästhetik, die im Ost-West-Status Berlins wohl nur an Götz Friedrichs Deutscher Oper eine adäquate Entsprechung besaß. 1984 hatte er mit »Giustino« - Countertenor Jochen Kowalski sang die Titelrolle - den Anstoß für eine Händel-Renaissance gegeben. Nachhall seiner Lernjahre in Halle. Mit 23 Jahren inszenierte er dort, nach einem Studium der Theaterwissenschaften in Leipzig, Dvoraks »Rusalka«. Kam über Stralsund, Chemnitz, Weimar, Dresden an die Komische Oper Berlin. War zwanzig Jahre Chefregisseur.

Vielleicht ging es ihm nach 1989/90 ein wenig wie Heiner Müller oder DDR-Spitzentrainern: Land weg, Stoff weg, Ruhm weg. Die kritischen Bewusstseinsimpulse hinter dem Rücken des Offiziellen verloren ihre Kraft in der Weite der nunmehr bunt gleißenden Optionen, sich zu zerstreuen. Doch Kupfer fing sich rasch. Zu agil, um nicht weiter über die Welt entsetzt und entzückt zu sein. 2002 verließ er die Komische Oper. Hatte in der Nachbarschaft, gemeinsam mit Daniel Barenboim, auch die großen Wagner-Opern ... nein, nicht gestemmt, sondern hervorgebracht. Und mählich gewann wieder Attraktivität, was dieser Künstler stets gegen das Zeitgeisttheatergewerbe gesetzt hatte, gegen all diese szenisch überbauten Angestrengtheiten oder Juxereien oder Intellektualitäten. Was er nie verlor, war sein Schaffensgrund, vor Jahren im nd-Interview geäußert: »Kunst ist für mich keine Aufforderung, aus privaten Obsessionen Bilder für die Öffentlichkeit zu stampfen.«

Er selbst nannte sein Musiktheater ein »Mosaik der Lüste«. Und die Inszenierungen seines Alterswerkes offenbarten noch einmal auf andere Art das aufgeräumte Knäbische des Künstlers: Er war nicht mehr der Gejagte der eigenen Wirkungsmechanismen. So nahm der Experimentiercharakter seiner Regie wieder zu. Aber auch das stille Fragen just im Spannungsfeld der Töne: Wer sagt uns, dass es gut ausgeht mit dieser Gattung Mensch? Er glaubte trotz allem an die humane Ausdeutung traditioneller und moderner Musiken (Matthus, Zimmermann). Er lebte beglückt im Kraftwerk Oper, wo Geschenk als Verweigerung stattfindet: nämlich alles Große auf Identifikationsniveau herunter zu zerren.

Wer seinen Salzburger »Rosenkavalier« von 2014 sah und hörte (die Mailänder Scala übernahm), begriff, warum Kupfer gern Martin Walser zitierte: »Wenn eine Musik aufhört, ist Armut.« Noch einmal erlebte man in besonderer Beseeltheit diese große Kunst: Figuren keine Geheimnisse zu nehmen, ihnen aber auch keine aufzusetzen. All den Vernunftgespenstern, den Liebestraumtötern der großen Oper. »Die Zeit ist ein sonderbar Ding«, so lautet der berühmte Librettosatz der Strauss-Oper. Kupfers Spiel-Frage: Wie kann man in der Sorge um Wandel und Werden sich selber treu bleiben? Ist die Seele unsterblich? Welche Spannungen liegen zwischen wirklicher und vorgestellter Zeit, zwischen Zugriff und Loslassen? Wie verträgt sich die furchtsame Einsicht in die eigene Sterblichkeit mit dem Bewusstsein für den Bestand der Welt? So bestärkte dieser Regisseur die Ahnung, dass alles, was wir nicht als kompliziert erkennen - falsch ist.

Geboren wurde Kupfer 1935 in Berlin. Der Vater arbeitete bei der Feuerwehr in Berlin, er musste auch Dienst in den Theatern tun, davon erzählte er zu Hause, ein Feuer war im Sohn geschürt. »Die Klänge kommen aus dem Nichts und gehen wieder dahin - wie das Leben.« Hat er vor Jahren im nd-Interview gesagt. Und erzählte vom Tod: »Meine Mutter hatte im Keller Zyankali. Während der Bombennächte in Berlin sagte sie zu mir: Wenn ich dir was zu trinken gebe, dann schluckst du das. Ich empfand das als Gewissheit einer großen Geborgenheit: Meine Mutter würde mich vor Qualen schützen. Seither hat der Tod seine Schrecknisse für mich verloren.«

Mitunter glaubt man, selbst der Tod kenne das Erschrecken und fürchte um seine boshafte Wirkung. Also übertreibt er. Nahm sich die Musikszene zum Exempel der besonderen Aufmerksamkeit. 2019 raubte er uns Theo Adam und Peter Schreier. Nun ist auch Harry Kupfer, im Alter von 84 Jahren, gestorben.

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