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Tödliche Realität statt Vision Zero
40 Menschen starben in Berlin im vergangenen Jahr bei Verkehrsunfällen
Das neue Jahr hat gerade erst begonnen, schon drängt ein Thema auf die Tagesordnung: der Dauerbrenner Verkehrssicherheit. Denn es gibt bereits den ersten Berliner Verkehrstoten des Jahres 2020 zu beklagen. Am Montag erlag ein 71-Jähriger seinen schweren Kopfverletzungen, die er sich am 2. Januar bei einem Unfall in der Kreuzberger Adalbertstraße zugezogen hatte. Weil ein junger Mann sie angefahren hatte, stürzte die gleichaltrige Begleiterin des Senioren - und brachte auch den nun Verstorbenen zu Fall. Rettungskräfte hatten die beiden Unfallopfer in ein Krankenhaus gebracht, doch die Verletzungen des Mannes hätten sich später als »schwerwiegende Kopfverletzungen« herausgestellt, so die Polizei.
Der Todesfall ist nicht die einzige Schreckensnachricht des noch jungen Jahres in Bezug auf die Verkehrssicherheit: Am Montagabend wurde bei einem anderen Unfall eine Fußgängerin in Lankwitz schwer verletzt. Die 41-Jährige wollte die Gallwitzallee überqueren und wurde dabei von einem Auto erfasst, Rettungskräfte mussten sie in ein Krankenhaus einliefern.
Laut dem Verein »Changing Cities« starben im vergangenen Jahr in Berlin 40 Menschen bei Verkehrsunfällen. Das sind fünf Todesopfer weniger als 2018.
In den ersten zehn Monaten 2019 ereigneten sich etwa 12.600 Unfälle mit Personenschäden - etwa 300 weniger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Dabei erfasste die Berliner Polizei knapp 15.000 Verletzte, rund 500 weniger als im Jahr zuvor. Das geht aus den Daten des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg hervor. Die Veröffentlichung der Daten für das gesamte Jahr 2019 steht noch aus.
Mit dem 2018 verabschiedeten Mobilitätsgesetz will das Land Berlin unter anderem unfallträchtige Kreuzungen umbauen. 2019 sollten es mindestens zehn sein, dieses Jahr will das Land mindestens 20 und im kommenden Jahr mindestens 30 Knotenpunkte entschärfen. Außerdem sollen Radwege und der öffentliche Nahverkehr ausgebaut werden. jtw
Auch wenn beide Unfallhergänge noch nicht vollständig aufgeklärt sind, befeuern die Ereignisse das viel diskutierte Thema Verkehrssicherheit. »In den Köpfen der Verkehrsplaner muss ein Umdenken stattfinden«, sagte Ragnhild Sørensen vom Verein »Changing Cities« dem »nd«. Generell sei es nach wie vor so, dass die Bedürfnisse und die Sicherheit von Fußgängern und Radfahrern nicht konsequent in der Planung berücksichtigt würden.
Deswegen setzt sich »Changing Cities« für eine »Verkehrswende von unten« ein. Mobilität dürfe »weder Gesundheit noch Leben gefährden«, sondern müsse »sicher, komfortabel, klimafreundlich und barrierefrei« sein. Der Verein spricht sich explizit für Einschränkungen des Autoverkehrs aus - und hatte auch beim Mitte 2018 verabschiedeten Mobilitätsgesetz seine Finger im Spiel. Das Gesetz geht auf den Druck des Fahrrad-Volksentscheids zurück, den der Vorgängerverein von »Changing Cities« organisiert hatte. »Unsere Vision heißt Vision Zero«, sagte Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) bei der Verabschiedung des Gesetzes, also möglichst gar keine Verkehrstoten mehr. »Gute Verkehrspolitik muss sich an den Schwächsten orientieren.« Doch die Umsetzung ist bisher mehr als schleppend - allein im vergangenen Jahr starben laut »Changing Cities« 40 Menschen bei Verkehrsunfällen.
Die Aktivisten von »Changing Cities« widmen sich nicht nur verkehrspolitischen Lösungen. Sie protestieren auch und organisieren Mahnwachen, um auf die zahlreichen Fußgänger und Radfahrer aufmerksam zu machen, die noch viel zu oft auf Berlins Straßen verunglücken. Nachdem im Dezember vergangenen Jahres fünf Menschen binnen zwölf Tagen bei Verkehrsunfällen gestorben waren, organisierte der Verein gemeinsam mit dem Fahrradclub ADFC Berlin, FUSS e. V und dem ökologisch orientierten Verkehrsclub VCD eine Demonstration vor dem Roten Rathaus. Rund 150 Menschen kamen zu der Protestveranstaltung am 21. Dezember und gedachten der Getöteten mit weißen Pappfiguren, auf denen deren Alter und Todesdaten zu lesen waren.
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Zwar könne man mit konkreten Maßnahmen die Sicherheit von Fußgängern und Radfahrern verbessern, führte Sørensen gegenüber »nd« weiter aus - zum Beispiel durch geänderte Ampelschaltungen. Doch bei der Beurteilung der Unfälle werde häufig individuelles Fehlverhalten angeführt, so die Aktivistin. Dabei sei die Ursache strukturell: »Wenn es zu gefährlich ist, dann müssen wir die Gefahr rausnehmen - und das sind in den allermeisten Fällen Autos.«
Für bundesweites Aufsehen hatte Anfang September vergangenen Jahres ein Unfall in der Invalidenstraße gesorgt. Ein 42-jähriger Mann hatte die Kontrolle über seinen SUV verloren und war mit stark überhöhter Geschwindigkeit auf den Bürgersteig gerast. Dabei kamen vier Menschen im Alter zwischen drei und 63 Jahren ums Leben. Der Unfall löste Diskussionen über die Gefahren von großen, schweren Geländewagen und innerstädtische Verkehrssicherheit aus. Auch damals organisierte »Changing Cities« gemeinsam mit anderen Vereinen eine Mahnwache, um auf die Gefahren des Autoverkehrs hinzuweisen. Auch wenn die Unfallursache ein Krampfanfall des SUV-Fahrers war, drosselte die Verkehrsverwaltung die erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf der stark befahrenen Straße von 50 auf 30 Kilometer pro Stunde, um die Sicherheit zu erhöhen.
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