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Angriff auf das Solidarsystem

Die Rentenreform des Emmanuel Macron

  • Catherine Perret
  • Lesedauer: 7 Min.

Das an die Sozialversicherung gekoppelte französische Rentensystem stammt aus der Zeit der Befreiung Frankreichs von der deutschen Besatzung. Es wurde auf Initiative von Ambroise Croizat, französischer Minister für Arbeit und soziale Sicherheit und Gewerkschaftsvertreter des Allgemeinen Gewerkschaftsbunds (CGT), eingerichtet, um Zielsetzungen wie Fortschritt, Solidarität, Demokratie und sozialen Wandel voranzubringen. Die Sozialversicherung wurde in dieser Zeit von den Gewerkschaftsorganisationen in Vertretung der Arbeiterschaft mit dem alleinigen Ziel verwaltet, die Grundrechte zu stärken und um so die Bedürfnisse in den Bereichen Gesundheit, Familienrechte und Renten abzudecken. In Frankreich handelt es sich hierbei ohne Zweifel um die bedeutendste soziale Errungenschaft des 20. Jahrhunderts.

Dieses Sozialmodell hat Frankreich ermöglicht, bei der Alterssicherung eine weltweit fast einzigartige Stellung einzunehmen. Die Lebenserwartung von Männern und Frauen ist in den letzten 60 Jahren im Schnitt um 14 Jahre gestiegen. Das Durchschnittseinkommen von Rentenempfängern im Verhältnis zu den Löhnen und Gehältern liegt im internationalen Vergleich auf dem höchsten Stand, während die Armutsquote der Rentnerinnen und Rentner weltweit zu den niedrigsten zählt. Trotz des medizinischen Fortschritts wurde jedoch ein Rückgang der Lebenserwartung seit den Rentenreformen der Jahre 1993, 2003 und 2010 verzeichnet, die eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf weit über 62 Jahre zur Folge hatten.

Die sozialen Ungleichheiten haben sich im Zuge neoliberaler Reformen verfestigt. Heute leben die 5 % reichsten Franzosen im Schnitt 13 Jahre länger als diejenigen, die zu den 5 % der ärmsten Bevölkerungsteile gehören. Die Lebenserwartung eines 35-jährigen Arbeitnehmers ist sechs Jahre geringer als die eines leitenden Angestellten, die einer 35-jährigen Arbeitnehmerin drei Jahre niedriger als die einer Managerin.

Macrons Rentenpläne

Die aktuelle Regierung will unter dem Deckmantel der geplanten »Universalrente« nach Rentenpunkten neue soziale Rückschritte durchsetzen, die den Abbau aller bestehenden Sozialsysteme nach sich ziehen werden. Das Ziel wird haushaltspolitisch begründet: Der auf die Renten entfallende Anteil des BIP (13,8 %) soll verringert werden. Um dies zu erreichen, muss die Rentenhöhe schnellstmöglich um rund 20 bis 30 % gesenkt und das effektive Rentenalter auf 64 oder 65 Jahren erhöht werden.

Die erste Säule des Reformvorhabens betrifft die Rentenberechnung: Anstatt wie bisher die 25 besten Beitragsjahre in der Privatwirtschaft oder die sechs letzten Monate im öffentlichen Sektor heranzuziehen, soll nun das gesamte Einkommen einer beruflichen Laufbahn als Berechnungsgrundlage dienen. Die neue Berechnungsmethode wird eine deutliche Senkung der Altersrente bewirken und die Ungleichheiten insbesondere für diejenigen verschärfen, die durch prekäre Arbeitsverhältnisse oder Teilzeitarbeit vorbelastet sind. Der Niedrigverdienst in diesen Zeiten wird ihr Durchschnittseinkommen senken. Wenig überraschend ist, dass die Reform Frauen härter trifft, die im Schnitt bereits 20 % weniger Rente als Männer beziehen.

5. Dezember: Macrons Mauer
Der Generalstreik und der Kampf gegen die Rentenreform

In einem zweiten Schritt sollen sämtliche Regelungen zurückgenommen werden, die Ungleichheiten verringern und den Besonderheiten von beruflichen Werdegängen und Berufsgruppen Rechnung tragen. Von den insgesamt 16 Millionen Rentenempfängern in Frankreich beziehen heute 15 Millionen Rentner Unterstützung durch mindestens eine Solidaritätsmaßnahme (Berücksichtigung der Anzahl von Kindern, Witwenstand, Anpassung für Niedrigverdiener, Zeiten der Arbeitslosigkeit usw.).

Die Rente »nach Punkten« läutet das Ende der Solidarrente ein: Alle Unwägbarkeiten im beruflichen oder familiären Bereich werden die Rente beeinträchtigen, ohne durch die nationale Solidarität abgemildert werden zu können. Während beispielsweise Zeiten von Krankheit, Berufsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit gemäß der aktuellen Rentenregelung angerechnet werden (Berücksichtigung beitragsloser Zeiten), werden den Arbeitnehmern*innen die sogenannten »Karenztage« nach Verabschiedung der Rentenreform verloren gehen. Die Karenzzeit wird bei Krankschreibung auf 30 Tage erhöht, so dass Menschen, die nicht in guter körperlicher Verfassung sind, doppelt bestraft werden!

Mit der Einführung der sogenannten »Universalrente« nach Punkten werden die 42 bestehenden Grund- und Zusatzrenten verschwinden, die sämtliche berufliche Besonderheiten berücksichtigen und für Ungleichheiten oder spezifische berufliche Belastungen entschädigen. Beispielsweise ist die Lebenserwartung von Arbeitnehmern*innen geringer, die starken chemischen Risiken und Arbeitsunfällen ausgesetzt sind, und auch von Beschäftigten, die Nacht- oder Schichtarbeit (morgens, abends, nachts) leisten. Nach Macrons Reformprojekt sollen jedoch Vorruhestandsregelungen aufgrund der Beschwerlichkeit der Arbeit für zahlreiche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgeschafft werden.

Eine letzte bedeutende Folge dieser Reform: Der Wert von Rentenpunkten soll den Risiken der politischen, wirtschaftlichen und demografischen Konjunktur untergeordnet werden. Die Regierung wird ganz allein die Höhe der Rentenpunkte festlegen können, und zwar entsprechend den Zielen, die sie sich für den Staatshaushalt und auf politischer Ebene gesetzt hat.

Hinter dieser Reform zum Abbau des derzeitigen Rentensystems verbirgt sich ein umfassenderes politisches Vorhaben, nämlich die Privatisierung und Einführung eines kapitalgedeckten Rentensystems, das der privaten Versicherung den Weg bereitet. Dieses liberale Modell setzt einen durch und durch verwaltungstechnischen und buchhalterischen Mechanismus in Gang. Die Rentenpunkte, die während der Berufslaufbahn erworben werden, können keine ausreichende Altersversorgung mehr sicherstellen. Arbeitnehmer*innen, die finanziell gut aufgestellt sind, werden daher private Altersversicherungen abschließen, während alle anderen in die Armut abgleiten.

Die solidarische Alternative der CGT

Die CGT vertritt den Standpunkt, dass die solidarische Grundlage der Sozialversicherung verteidigt werden muss. Mit unseren Nettolöhnen und -gehältern finanzieren wir unsere monatlichen Ausgaben. Unser Bruttoentgelt aber stellt sicher, dass wir ein Leben lang versorgt sind und unser Zugang zu Gesundheitsversorgung, Familienrechten und Rente garantiert ist. In einer Gesellschaft, in der sich die sozialen Ungleichheiten verschärfen, ist der wichtige Grundsatz »Jeder nach seinen Möglichkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen« weiterhin aktuell: Er verbindet uns miteinander in einer Schicksalsgemeinschaft, die der Arbeiterklasse viele soziale Fortschritte ermöglicht hat.

Das Projekt der CGT zielt auf eine Verbesserung der sozialen Absicherung, der Gewährleistung umfassenderer Rechte für alle und gleichzeitig darauf ab, die Problemstellungen unserer Zeit einzubeziehen.

Die CGT macht sich für Vorschläge stark, die auf den Bedürfnissen der gesamten Bevölkerung gründen, und fordert ein Renteneintrittsalter ab 60 Jahren, ein Ruhegeld in Höhe von mindestens 75 % des beruflichen Nettoeinkommens und eine Mindestrente von 1.200 Euro netto (entspricht ungefähr dem aktuellen Mindestlohn).

Die CGT drängt darauf, dass jungen Menschen die Studien- und Ausbildungsjahre sowie die Suche nach dem ersten Arbeitsplatz angerechnet werden. Da Bildung und Qualifikationen zur Wohlstandmehrung beitragen und die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen verbessern, kann es nur gerecht sein, dass diese Zeiten bei der Rente anerkannt werden.

Die CGT setzt sich für die Anerkennung von beschwerlicher Arbeit und eine Ausweitung der Vorruhestandsregelung auf 55 Jahre für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein, die Tätigkeiten unter belastenden Bedingungen ausführen. Krankenschwestern und Pflegekräfte verrichten beispielsweise beschwerliche Arbeiten und sollten folglich bei voller Rentenleistung ab 55 Jahren in den Ruhestand gehen können.

Dazu ist es notwendig, dass die Finanzierung auf der Grundlage von Sozialbeiträgen erhöht wird. Und der beste Weg dafür ist eine Steigerung der Löhne und Gehälter! Beispielsweise würde die Umsetzung der Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern zusätzliche 6,5 Milliarden Euro für die Rentenfinanzierung einbringen. Ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit, insbesondere durch die Abschaffung des gesenkten Sozialversicherungsbeitrags für Arbeitgeber, würde weitere 20 Milliarden Euro in die Rentenkassen einspielen.

Soziale Sicherheit und Solidarität oder private Versicherung und Individualismus - vor diese Wahl sind heute Französinnen und Franzosen gestellt. Als wichtiges Anliegen ist die Altersversorgung für die Zukunft unserer Gesellschaft richtungsweisend. Macron kann in seinem Vorhaben jedoch nur durch eine breite Mobilisierung der Bevölkerung gestoppt werden. Natürlich steht außer Frage, dass sich die CGT aktiv an diesem Kampf beteiligen wird.

***

Catherine Perret ist Generalsekretärin des französischen Allgemeinen Gewerkschaftsbunds (CGT) und Verhandlungsführerin der CGT für die Rentenreform. Zudem ist sie Vorstandsmitglied der staatlichen Agentur für berufliche Erwachsenenbildung (AFPA).

Eine neue Serie politischer Analysen des Brüsseler Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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