Die große Ernüchterung

sieben tage, sieben nächte

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 3 Min.

Nicht mehr rauchen, mehr Sport, weniger Trinken, weniger Müll ... viele der Vorsätze für 2020 sind bereits in Rauch aufgegangen. Im australischen sozusagen, denn so wie es um besagte Vorsätze steht, steht es auch um das Jahr 2020: Von der weißen Unschuld ist zehn Tage nach seinem Beginn nur noch Rußgefärbtes übrig, schließlich wartet es schon mit einer verheerenden Brandkatastrophe und einem Beinahe-Krieg auf.

Die Einteilung von Zeiträumen durch Menschen ist willkürlich, an der Zeit selbst ändern sie nichts. Von daher ist es völlig egal, ob man am 11. April oder am 31. Dezember mit dem Rauchen aufhört. Früher ist natürlich immer besser, aber der 11. April folgt sowohl dem 31. Dezember, als dass er ihm auch vorausgeht - rein kalendarisch zu denken bringt in diesem Falle also gar nichts. Nachdenken über die Zeit als solche hilft auch nicht weiter, man kriegt sie einfach nicht zu fassen, sie ist immer da und immer schon vergangen und immer immer noch nicht - aber wenn man währenddessen weder raucht noch trinkt, ist das doch schon ein Gewinn. Moment. Sagt eigentlich wer? Brauereimitarbeiter und Zigarettenfabrikbesitzer sicher nicht, und die wollen schließlich auch leben. Aber doch nicht auf Kosten der Gesundheit!, tönt es da, bevor der Ruf schnell leiser wird - das tun doch Autoproduzenten auch. Und eigentlich alle, die irgendetwas herstellen, solange es so etwas wie »Müll« gibt. Und auch die Gewinnung des elektrischen Stroms, der für das Schreiben dieses Editorials nötig ist, kostet Menschen und den Planeten etwas.

Nüchtern betrachtet ist das Leben also ziemlich ungesund und endet immer tödlich. Nicht nüchtern ist es zwar noch viel ungesünder, verschleiert und vernebelt dafür aber zumindest kurzzeitig die nüchternen Fakten und rundet die Kanten etwas ab. Das beginnt bei der eigenen Unzulänglichkeit, geht über ungezählte Ungerechtigkeiten und endet bei der allgemeinen Endlichkeit. Aber da auf Dauer nur spirituell oder spirituos irgendetwas glattbügeln zu wollen - lässt am Ende trotzdem Falten zurück.

Egal, wie man es geradeaus denkt, man knallt stets gegen Wände. Man könnte versuchen, Wände einzureißen, aber das sind recht viele und immer nur Abrisskolonne ist auf Dauer auch sehr eintönig. Der Trick: Um-die-Ecke-Denken. Wenn man fliegen will, nützt es ja nichts, wenn man noch so schnell mit den Ärmchen flattert. Man muss sich mit voller Wucht neben den Boden werfen. Man werfe nicht den Kalender weg, aber nehme einen Tag wie den anderen einzigartigen. Von dem Moment an ist alles wunderbar. Und wenn das nicht mehr stimmt - ist dann schon ein neuer Moment. Es beginnt immer wieder von vorn und ist dabei immer wie immer. Selbst nüchtern kann einem da schwindlig werden. Aber wirklich wacht man eben nur in der großen Ernüchterung auf. Stephan Fischer

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