Der große Bruder mit dem totalen Durchblick

Stephan Fischer findet nicht, dass die US-Techfirma Clearview alles sehen sollte

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie ist der Traum jeder »Sicherheits«-Behörde und der Albtraum jedes Datenschützers. Und George Orwell, der vor genau 70 Jahren starb, würde ob ihres Zustandekommens wissend nicken. Denn Freiheit stirbt nicht nur mit Sicherheit, sondern begeht meistens freiwillig Suizid – wenn auch hier in den meisten Fällen völlig unwissend: Die Datengrundlage für die Gesichtserkennungssoftware der bis vor Kurzem noch völlig unbekannten US-Techfirma Clearview AI (AI steht für Artificial Intelligence, dt. künstliche Intelligenz) musste den Menschen nicht etwa per Zwang genommen werden – die Meisten haben Clearview den Durchblick völlig freiwillig geliefert.

Für die Datenbank wurden öffentlich zugängliche Bilder bei Online-Plattformen wie Facebook und YouTube »eingesaugt«, hieß es in einem Bericht der »New York Times«, die den Vorgang zuerst öffentlich machte. Denn der Zugang zur Datenbank mit rund drei Milliarden Bildern von Menschen wurde mehr als 600 Behörden als Service angeboten, schrieb die Zeitung am vergangenen Wochenende unter Berufung auf das Unternehmen. »Technologie, um die schwersten Verbrechen aufzuklären«, damit wirbt die Firma auf ihrer Website. Um gleich darauf mögliche Bedenken zerstreuen zu wollen: Man habe die Daten nur aus frei zugänglichen Bereichen des Webs, sie sollen zur »Suche, nicht zur Überwachung« verwendet werden, man handle im Einklang mit allen Gesetzen usw.

Glaubt man dem Zitat auf der Website, wird die Datenbank bereits von Behörden genutzt, zitiert wird dort ein kanadischer Ermittler, der das Programm »das Beste, was in den letzten zehn Jahren im Bereich Opfer-Identifizierung passiert ist«.

Nun werden verschiedene Stimmen laut, die das einen Skandal nennen oder, wie bereits geschehen, das Ende der Privatsphäre ausrufen. Hierzulande wäre das alles gar nicht erlaubt. Und irgendwann sind alle rund sieben Milliarden Menschen in einer Gesichtsdatenbank vereint. Im Fall Clearview werden aber einige Grundlagen und Mechanismen der Internetökonomie noch einmal sehr deutlich.

Erstens: Der Nutzer ist nicht nur der Kunde, er ist das Produkt. Die Daten der Nutzer werden verwertet, verkauft, verwendet. Firmen bezahlen dafür, Behörden und Institutionen nutzen sie. Entweder ist das Prozedere in den Geschäftsbedingungen offengelegt oder hinterher wird sich beispielsweise entschuldigt, weil es ein »Datenleck« gab. Oder die offenliegenden Daten werden einfach so aufgesaugt. Man kann sich ja beim Datenschutzbeauftragten beschweren. Das bringt nur nicht viel, denn

Zweitens: Alles was geht, wird auch getan. Wenn man Informationen wie den Namen auf der einen Seite und ein Foto auf der anderen Seite hat, werden diese miteinander verknüpft. Und in großen Datenbanken gesammelt und ausgewertet. Und wenn damit Geld zu verdienen ist, erst recht. Judikative und Exekutive hinken in vielen Fällen extrem hinterher (oder nutzen selbst die fraglichen Tools, siehe Clearview), dass sich mittlerweile in vielen Firmen der Grundsatz durchgesetzt zu haben scheint: Erst mal machen, die Chance damit durchzukommen lohnt den Einsatz. Das geht im Kleinen und Sichtbaren: Erst einmal Leihfahrräder samt fragwürdiger Apps auf die Straßen kippen. Bis Behörden dafür eine Handhabe erarbeiten, ist das Geschäft längst gelaufen, liegen die Fahrräder in Flüssen und das nächste große Ding heißt E-Roller. Und im ganz großen Sichtbaren: Erst einmal alle Bilder aus dem Netz saugen. Und welcher Staat hat ein Interesse, seine Bürger vor den noch abstrakten Folgen dessen zu schützen, wenn die Sicherheitsbehörden ganz heiß auf diese ganz konkreten Werkzeuge sind?

Drittens: Technologie an sich ist amoralisch. Mit einem Spaten kann man einen Brunnen graben. Aber auch jemandem erschlagen. Hellhörigkeit ist geboten, wenn für bestimmte Technologien stark moralisierend geworben wird. Im Falle der Gesichtserkennung bei Clearview – und nicht nur dort - wird mit der Aufklärung sexuellen Missbrauchs an Kindern geworben. Starkes Argument, wer kann da etwas dagegen haben? Das muss auch derjenige nicht, der darauf hinweist, dass aber über den Aufklärungsgegenstand nicht das Programm, sondern die Anwender entscheiden. Die können auch Demonstranten identifizieren. Mit derselben Technologie.

Große Brüder mit dem totalen Durchblick: in der Familie eine tolle Sache. Außerhalb davon ein totales Angstszenario. Nicht erst seit 1984.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -